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Vielen Dank für das Leben

Vielen Dank für das Leben

Titel: Vielen Dank für das Leben
Autoren: S Berg
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sollte, in ihrem Beruf. Sie betreute alte Menschen, Senile, Trinker, Bettnässer, die außer ihr keinen hatten, der sie am Leben hielt.
    Bis vor einigen Jahren hatte sie in einem Museum für Ur- und Frühgeschichte gearbeitet. Damals benutzte sie noch ihr Wohnzimmer, trank morgens Kaffee ohne Wodka und träumte davon, Archäologin zu werden, doch dann hatte sie begriffen, dass auch die Archäologie sie nicht aus dem Gefängnis des kleinen Landes und aus der umfassenden Sinnlosigkeit des Lebens befreien würde. Sie war einer jener unglücklichen Menschen, die das Geschenk des Lebens, um das sie nicht gebeten haben, gerne an den Absender zurückgesandt hätten.
    Ihr war die Vergänglichkeit klar, und das Wissen darum war ihr keine Befreiung. Sie konnte, je älter sie wurde, immer weniger verstehen, warum man gegen seine Müdigkeit ankämpfen soll. Schmerzen überstehen, einen Krebs bekämpfen, verlorene Liebe überleben, sich gesund halten und fit, sich bilden und zu einem gütigen Menschen entwickeln, wenn man doch schon bald unter der Erde liegt, von allen vergessen.
    Jeden Morgen, damals, als sie noch in ihrem Wohnzimmer verkehrt und über Buchrücken gestrichen hatte, war sie mit einem Faltenrock, einer braunen Strickjacke und derben Halbschuhen zu ihrer Arbeitsstelle gegangen und hatte sich in dem Bild der Museumsangestellten gefallen. Sie war während des gesamten Tages angenehm allein, nur dann und wann kurz gestört von Schulklassen, die staunend vor den nachgebildeten Höhlen mit Steinzeitmenschen und Feuern standen. Die Kinder wünschten sich nichts mehr, als zu den Steinzeitmenschen klettern zu können. Das musste verhindert werden, denn außer ihr war keiner befugt, über die gläserne Trennscheibe zu steigen und sich neben das Lagerfeuer zu setzen, das von roten Glühbirnen dargestellt wurde. Sie verbrachte den größten Teil des Tages, wenn keine Schulklassen da waren, neben den interessanten rothaarigen Männern und wartete, dass sie zu sprechen begännen. Wie viele junge Frauen von einer alleinerziehenden, meist abwesenden Mutter aufgezogen, hatte sie kein Wissen vom anderen Geschlecht und träumte von Männern, die über jene Mischung aus äußerer Kraft, Brutalität und niederer Stirn verfügten, die sich mit etwas paart, das zart und leise ist. Anders sollten sie sein als die Männer in ihrer Stadt, die saßen in den Verwaltungen, waren Vorgesetzte wie der Genosse Museumsdirektor, bei dem die Frau ab und zu antreten musste, um mit ihm den Fünfjahresplan zu besprechen. Ein teigiger Mann mit Halbglatze, der sich außer durch den Besitz männlicher Geschlechtsorgane durch nichts auszeichnete.
    Die emanzipatorische Umsetzung des realen Sozialismus bestand darin, dass alle Frauen arbeiteten, dass sie jeden Beruf, von der Bauleiterin bis zur Professorin, ausüben konnten, ja sollten, der Wirtschaft ging es nicht blendend, da mussten die Frauen ran, da wurden sie gebraucht, jede Hand wurde da benötigt, die Frauen verfügten über Geld, das nichts wert war, und die Männer verfügten über die Entscheidungsgewalt.
    Nachdem die Frau nach Jahren immer noch nicht befördert worden war, sah sie sich eines Morgens in den mittleren Jahren, die damals mit Ende dreißig begannen, in einem Faltenrock neben einem Plastiklagerfeuer sitzen. Es war ihr erbärmlich gewesen. All die Anpassung, das gute Betragen, die Pünktlichkeit wurden ihr nicht gedankt, sie würde alt werden in diesem Museum und in ihrer feuchten kleinen Wohnung.
    Eine halbe Flasche Wodka leerte sie an jenem Abend, überrascht über deren freundliche Wirkung. Am folgenden Tag hatte sie gekündigt und bei der Volkssolidarität als Altenpflegerin zu arbeiten begonnen, zusammen mit vielen, die aus dem Alltag gefallen waren. Alkoholiker, gescheiterte Republikflüchtige, Soldaten, die den Dienst an der Waffe ablehnten.
    Altenpfleger waren Hoffnungslose, am Leben gehalten durch den Anblick jener, in denen noch weniger Freude vorhanden war, auf den letzten Metern.
    Der erste Arbeitstag war es, als sie die Matratze in ihre Küche schob und die Schränke leerte, um Platz für Alkohol zu schaffen.
    Drei Jahre hatten genügt, und sie hatte sich in ihrem neuen Dasein als Angehörige einer, wenn auch in ihrem Land sehr großen, Randgruppe eingerichtet, und hielt den Geruch ihrer Ausdünstungen für Normalität. Sie würde sich wohl auch an ein Kind gewöhnen.
    In den folgenden Wochen fand die Frau in einen Rhythmus, der bewirkte, dass sie nicht mehr nachdenken
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