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Vielen Dank für das Leben

Vielen Dank für das Leben

Titel: Vielen Dank für das Leben
Autoren: S Berg
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Regenwolken über die Straßen, an deren Rändern niemand stand, um der Frau zur Erfüllung ihrer evolutionären Pflicht zuzujubeln.
    Auf dem Weg, dem leeren, nicht von Passanten gesäumten, kam sie an der Behörde vorbei, deren Aufgabe es war, Kinder zu registrieren und Totenscheine zu katalogisieren. Da das Baby schwieg und die Frau keine Ahnung hatte, wie lange das der Fall sein würde und ob sie in absehbarer Zeit irgendwohin gehen könnte, ohne dass ein eventuell schreiendes Kind an ihr hing, konnte sie die Formalitäten auch sofort erledigen und betrat das Gebäude, in dem, wie überall auf der Welt, dem Bürger gezeigt wurde, wo sein Platz ist, in demütiger Wartehaltung auf unbequemen Bänken. Doch die Frau war dankbar für die Atempause, denn sie wusste nicht recht, wie sie sich nach der Rückkehr in ihr Leben verhalten sollte.
    Nach zwei Stunden, während das Baby interessiert ihr Gesicht betrachtet hatte, stand sie am Schreibtisch einer Person, die auch vor einem Pflug keine schlechte Figur gemacht hätte. Die Stimme der Beamtin auf Lebenszeit hatte jenen beißenden Überton, der das Trommelfell in unangenehme Schwingungen versetzt. Das also ist es, was die Sprache des Landes andernorts in Verruf gebracht hat, was sie zum Pseudonym schnarrender Befehlserteilung hat werden lassen, in jenem Rest der Welt, den die Frau nie kennenlernen würde. Sie sah die Beamtin rot anlaufen. Das haben wir hier ja noch nie gehabt, dass ein Geschlecht unbestimmt ist, das kann ich so nicht dulden, wo kämen wir da hin, wenn jeder in der Bestimmung seines Geschlechts nach Lust und Laune agiert. Wie sollen wir denn aussagekräftige Statistiken erstellen, wenn alle mit ihren Genitalien Kraut und Rüben spielen wollten. Einen Vater hat ES sicher nicht, fragte die Beamtin, ohne die Frau anzusehen. Ihr von Kratern des Elends dicht bestandenes Gesicht erlaubte es, den Film in ihrem Inneren zu betrachten. Eine Schlampe, vermutlich eine Künstlerin, jede Nacht mit einem andern Alkoholiker im Bett, und dann kommt eben sowas dabei heraus. Nachdem die Frau sich den Vortrag der Beamtin angehört hatte, ohne ihn mit der Bemerkung zu unterbrechen, dass auch in deren Fall eine Geschlechterzuordnung schwierig sei, entschied sie sich, aus ihrem Kind einen Jungen zu machen. Sofort beruhigte sich die Staatsdienerin. Ihr Gesicht nahm eine normale Färbung an, die Ordnung war hergestellt, die Anmeldung vollzogen, das Baby offiziell ein Mensch.

Und weiter.
    Als die Frau später ihre Wohnung betrat, schlug ihr der abgestandene Geruch ungelüfteter Zimmer entgegen. In den Räumen herrschte bei aller Verwahrlosung eine große, bürgerliche Zeigefreudigkeit; der Kanon der Weltliteratur, Stapel klassischer Schallplatten, antike Möbel bildeten den Hintergrund für das wie von einem einfallslosen Bühnenbildner mit leeren Flaschen und gefüllten Aschenbechern inszenierte Elend. Da läuft wohl mal wieder was von Brecht, und alle können mitsingen.
    Das Baby schien sich übertrieben langsam, fast provozierend umzusehen. Die Frau beobachtete, wie sein großer Kopf träge den Augen folgte. Nach einem Schwenk von 180 Grad schloss das Baby die Augen, und die Frau meinte es seufzen zu hören.
    Niemand freute sich auf den neuen Menschen, kein Bett gab es da, keinen Himmel, kein Spielzeug wartete auf ihn oder sie, oder was ist es nun eigentlich. Die Frau legte das Kind auf der Matratze ab und begann es zu entkleiden. Mit vorsichtigem Ekel entfernte sie Windellagen, hielt inne, atmete tief, um schließlich zwischen seine Beine zu sehen und zu entspannen. Nichts Furchterregendes gab es, das Kind ähnelte einer Plastikpuppe, es sah sauber aus, geschlossen, vernäht, soso, flüsterte sie, ein Ding bist du also, ein Hündchen, da will ich dich Toto nennen.
    Toto.
    Das Kind schaute sie ruhig an, als ob ihm seine Lage klar wäre, nackt auf einer Matratze, in einer Wohnung, in der sich niemand freut, es zu sehen, befremdet, aber nicht angetastet in seiner Ehre. Die Frau, unangenehm berührt ob des seltsamen Blickes, packte das Baby wieder ein und verließ das Haus, um Kindernahrung und Windeln zu besorgen. Und vielleicht ein wenig Alkohol. Oder vielleicht, um nicht zurückzukehren. Es war damals noch nicht üblich, Kindern übertriebene Aufmerksamkeit zu schenken. Sie wurden weder bis zum sechsten Lebensjahr gestillt, noch mit Knieschonern in Spielgruppen gefahren, sie wurden nicht in Waldkindergärten oder zum Kinderpsychologen verbracht. Kinder waren nicht der
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