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Wie kommt das Salz ins Meer

Wie kommt das Salz ins Meer

Titel: Wie kommt das Salz ins Meer
Autoren: Brigitte Schwaiger
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    Gutbürgerlich, vor dem Spiegel im Schlafzimmer meiner Eltern, gutbürgerlich, das ist das wichtigste. Großmutter sagt es mit Nachdruck. Die einfache Formel, in der alles aufgeht, Trost und Beruhigung, wenn sie es ausspricht: gutbürgerlich. Ein Reißverschluß klemmt. Es ist heiß, man müßte ein Fenster öffnen, die verbrauchte Luft. Mutter zwängt sich ins Kleid. Der Stoff hat sich im Reißverschluß verfangen. Immer dieser Fetzen, sagt Vater. Das ist kein Fetzen, sagt Großmutter, das ist ein guter Stoff. Sie reibt den Saum zwischen den Fingern. Wieso immer, fragt Mutter. Sie hat dieses Kleid erst einmal getragen, bei Großvaters Begräbnis. Es ist elegant, sagt Großmutter. Vater wird ungeduldig. Seit einer Stunde ist er fertig, war gestern beim Friseur, um sich den Nacken ausrasieren zu lassen. Schwarzer Anzug, weißes Stecktuch, grauer Hut. Kann ich so gehen, fragt Großmutter. Ja, geh nur, geh, wer sieht dich denn, auf dich schaut doch keiner, du bist alt, natürlich kannst du so gehen, außerdem läßt du dir ohnehin nichts sagen. Die Pelzmütze hast du wieder viel zu tief im Gesicht. Schaust aus wie eine russische Bäuerin. Ja, du kannst ohne weiteres so gehen, sagt Vater. Mutters Reißverschluß ist endlich zu. Sie tupft die kleinen Schweißperlen ab, die sich unter ihren Brauen gebildet haben, dann malt sie die Lippen nach, auf diesen Mund kann sie heute noch stolz sein. Schnell noch die Handtasche polieren. Das Leder muß glänzen. Vater möchte wissen, seit wann Mutter diese Tasche hat. Seit Jahren, sagt sie. Großmutter nickt. Ich kenne diese Tasche nicht, behauptet Vater. Eine elegante Tasche, sagt Großmutter, sie paßt zu den Schuhen, und das ist das wichtigste. Mutter streicht ihre Handschuhe glatt. Sie fragt, ob sie einen Handschuh auf der linken Hand und den rechten lose in der rechten Hand tragen soll. Du wirst dir die Hand abfrieren, warnt Großmutter. Beeilt euch, sagt Vater.
    Und sie? Was ist mit ihr? Warum liegst du auf dem Bett? Ist dir schlecht? Plötzlich alle drei Gesichter über mir. Du zerdrückst das Kleid! Zieh die Schuhe an! Nimm den Mantel! Welchen Mantel? Deinen natürlich! Dieser schöne Mantel, sagt Großmutter, so ist es recht, so kann man sich sehen lassen. Ich mache noch ein bißchen Ordnung, sagt Mutter, es liegt so viel herum, laß mich aufräumen. Nein, Vater hat es eilig. Siehst du, jetzt ist dein schönes Kleid zerdrückt! Warum legst du dich auch aufs Bett! Laß dich anschauen! Warum warst du nicht beim Friseur? Die Nervosität, sagt Großmutter, wenn ich zurückdenke! Denk nicht zurück, sagt Vater, knöpf lieber deine Jacke zu. Wenn ich zurückdenke, sagt Großmutter, mein Gott und Herr! Sie schaut ja aus wie eine Leiche! Das Kind ißt zu wenig und raucht zu viel. Jeden Tag den schwarzen Kaffee auf nüchternen Magen! Bitte nimm heute nicht dein Kölnischwasser, sagt Mutter und drückt Großmutter ein Fläschchen in die Hand. Sie werden ja nebeneinander sitzen, und Mutter verträgt Großmutters Siebenundvierzigelf nicht. Ich nehme immer mein Kölnischwasser! Großmutter sagt, daß sie es so gewohnt ist. Außerdem muß sie sparen. Wer sagt, daß du sparen mußt, du bekommst ja jeden Monat genug, ruft Vater. Ich muß an die Zukunft denken, sagt Großmutter. Komm jetzt, sagt Vater, oder hast du es dir überlegt?
    Was ist, wenn ich es mir überlegt habe? Wenn wir anrufen und ausrichten lassen, daß wir nicht kommen. Vielleicht irgendwann, später, aber nicht heute. Ich habe es mir überlegt, ich will nicht, weil ich das eigentlich nie wollte, weil ihr mich überlistet habt. Weil ihr gesagt habt: nur eine Formalität. Und jetzt seid ihr aufgeregt, nehmt es ganz wichtig, seid alle gegen mich. Keine Angst, mein Kind, habt ihr gesagt, das ist nur Tradition.
    Vater läuft pfeifend die Stiegen hinunter, Mutter und Großmutter haben sich eingehängt und folgen langsam, weil die Alte nicht mehr so schnell kann, wegen der Knie, sie steigt alle Stiegen seitlich hinauf und hinunter, seit sie sich eine Schleimbeutelentzündung geholt hat bei einem Ausflug auf den sizilianischen Vulkan, eine ganze Schachtel Lavabrösel hat sie heimgebracht, und die Knie. Sie haben Taschentücher eingesteckt, für alle Fälle. Auch ins Kino nehmen sie immer Taschentücher mit, weil sie nur in traurige Filme gehen, wo es sich auszahlt. Aus dem Leben gegriffen, sagt die Großmutter. Neben unserem Fernsehapparat liegt immer eine Schachtel mit Zellstoff aus Vaters Ordination. Wenn ein
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