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Wie kommt das Salz ins Meer

Wie kommt das Salz ins Meer

Titel: Wie kommt das Salz ins Meer
Autoren: Brigitte Schwaiger
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Hochschule die Einladung vorzeigen müsse. Die Lehrerin schüttelte lächelnd den Kopf. Die Frau vertiefte sich wieder in den Brief. Wahrscheinlich konnte sie es noch immer nicht fassen, daß der Junge es wirklich geschafft hatte. Und daß er sich an sie erinnerte … Sie fragte, wie viele Stationen es noch seien bis zur Hochschule. Noch zehn Minuten, sagte die Lehrerin. Oder war sie vielleicht Pharmazeutin? Jedenfalls wußte ich, daß sie irgend etwas abgeschlossen hatte. Die Frau faltete endlich den Brief und steckte ihn zurück in die Tasche. Sie lächelte mich an. Ich lächelte zurück. Ob ich auch zur Promotion fuhr? Ja, sagte ich und wurde rot. Weil ich spürte, daß mich die Pharmazeutin anschaute. Der Bruder? Nein, sagte ich, mein Bräutigam. Gratuliere, sagte die Frau und streckte mir ihre knöcherne, fleckige Hand hin. Ich drückte zu. Ich fragte, ob ihr Sohn … Nein, mein Patenkind! Gratuliere, sagte ich, und die Pharmazeutin schaute überlegen aus dem Fenster. Was haben denn Sie studiert? fragte die Frau. Ich? Nichts. Ist auch besser, sagte sie, für eine Frau ist es besser. Was haben Sie denn für einen Beruf? Sekretärin, sagte ich schnell, weil mir einfiel, daß ich wenigstens Maschineschreiben hätte lernen können. Das ist ein schöner Beruf für eine Frau, sagte die Patin. Ich bin auch Sekretärin, sagte die Pharmazeutin, ich fahre zur Promotion meiner Schwester.
    Und dort, in dem Festsaal, roch es nach zu vielen Menschen, und es wurde lateinisch gesprochen, einige Männer hatten sich verkleidet und trugen seltsame Kopfbedeckungen, und hinter mir sagte einer, daß der Diplomingenieur nicht hinter dem Doktor zurückstehe, beides seien gleichwertige akademische Grade, und ich dachte, daß Rolf nicht nur Diplomingenieur war, sondern auch Doktor der Technik. Da wurde mir kalt, und am Abend jenes Dienstags konnte ich nicht mehr mit ihm schlafen. Seine Unterhosen fielen mir auf. Ich mußte mich wegdrehen. Gute Nacht, Zauber. Wohin geht die Liebe, wenn sie geht? In den Arsch? Sei nicht ordinär. Er war so stark, ich so schwach, alles so schön, und jetzt kann ich nicht mehr. Sei kein Kind, sagte Rolf. Wie mager er sich an mich preßte in jener Nacht. Geh zu einem Blinden und sag ihm: Sei nicht blind! Also gut, sagte der Dr. Dipl. Ing. und drehte das letzte Licht aus.
     
    Vater sagt, Rolf ist ein anständiger und tüchtiger Bursche, Mutter sagt, auf Rolf kann ich stolz sein, Großmutter sagt, das wichtigste ist eine gutbürgerliche Verbindung. Karl dachte anders und sagte nichts. Aber Karl zählt nicht, seit er an seiner Schule bei der Unterrichtung der Kinder in Menschenrechten eine wahre Geschichte als konkretes Beispiel menschenunwürdiger Behandlung erzählt hat. Ein Bauernknecht wurde in unser Bezirkskrankenhaus eingeliefert, dort stellte man außer einem gebrochenen Bein auch Verwahrlosung und chronische Unterernährung fest. Der Bauernknecht konnte keine zusammenhängenden Sätze sprechen, er hatte in der Fleischkammer geschlafen, wo die Bauern das Selchfleisch aufbewahren, sein Essen bestand aus Abfällen, die er im Sommer im Hof und im Winter im Stall serviert bekam, und der Knecht hatte noch nie Geld gesehen, obwohl er Bezieher einer Fürsorgeunterstützung war, aber die hatte der Bauer unterschlagen, und Karl erzählte seinen Kindern in der Schule die Geschichte von dem Knecht, und ich erzählte sie Vater, Vater aß gerade Selchfleisch, und weil der Bauer ein treuer Patient von uns ist, wie Mutter das nennt, und weil wir stolz sind auf die Treue unserer Patienten, und das Selchfleisch war vielleicht von dem Bauern, jedenfalls ist Karl seither ein Psychopath und zählt also nicht. Für einen Rückzieher ist es wirklich zu spät. Rolfs Mutter und meine Eltern duzen sich schon. Großmutter hat ihre böhmischen Kristallgläser und das geklöppelte Tischtuch hervorgeholt an dem Nachmittag, an dem wir alles terminlich fixiert haben, und die Schachtel mit den bräunlichen Fotografien, da sagte Rolf, daß ich meiner Mutter ähnlich sehe, und Großmutter sagte, daß ich aber den Herzmund von ihr habe, sie zeigte ihre Zähne, alle original, sagte sie, das war ein Fauxpas, weil Rolfs Mutter falsche hat, und Großmutter merkte nicht, daß sie noch tiefer ins Fettnäpfchen stieg, als sie erklärte, woher das starke Gebiß in unserer Familie kommt, nämlich aus der seit Generationen gesunden Linie ihrer Seite, und ich soll meine Zähne zeigen, und Vater hat Rolf an dem Nachmittag sein zweites Paar
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