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Sühneopfer - Graham, P: Sühneopfer - Retour à Rédemption

Titel: Sühneopfer - Graham, P: Sühneopfer - Retour à Rédemption
Autoren: Patrick Graham
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I
    The Big One
1
    Die Geräusche von San Francisco treten allmählich in den Hintergrund. Peter Shepard ist in der Mitte des Golden Gate Park angelangt. Es ist immer dieselbe Allee. Immer dieselbe Bank zwischen bewaldeten Hügeln und weiten Rasenflächen. Rechts der metallene Papierkorb, in den er seine Kippen wirft. Links ein Weiher, auf dem Schwäne und ein paar rabenhässliche Enten dahingleiten. Ihm gegenüber drei alte majestätische Zedern, deren Äste im Wind knarzen und knacken. Shepard setzt sich immer auf die rechte Seite der Bank. Nicht zu weit vom Papierkorb, nicht zu nah am Weiher. Er setzt sich und wartet.
    Der Weg vor ihm besteht aus dieser gelben Erde, in der die Sohlen der Jogger fast keine Abdrücke hinterlassen. Mit gesenktem Kopf und regelmäßigem Atem laufen sie an Shepard vorbei, der die Hände zu Fäusten ballt, bis sie wieder fort sind. Sie beachten ihn nicht. Sie atmen durch den Mund, an den Rhythmus der Musik angepasst, die sich aus ihren Ohrstöpseln ergießt, und rennen an ihm vorbei. Eine abgelegene Bank. Eine Bank, auf der zu sitzen man eigentlich keinen Grund hat.
    Shepard sucht hier Zuflucht, wenn die Panik so stark wird, dass er schon die obersten Etagen der Hochhäuser wanken sieht. Er kommt her, um Phantome zu beobachten. Die Spaziergänger, die Nichtstuer. Auch die Familien. Diese Millionen Menschen, denen ein letzter Aufschub gewährt ist, bevor sie auf einen Schlag verschwinden, wenn The Big One , das große, endgültige Beben, die Stadt dem Erdboden gleichmacht. Ein unausweichlich bevorstehendes Ereignis, das die Gabe hat, ihn in Furcht und Schrecken zu versetzen, vor allem an stürmischen Tagen, wenn der Wind über der Bucht Tausende Vögel durch die Luft fegt. Auch an Nebeltagen, wenn nur die Pylonen der Golden Gate Bridge in den offenen Himmel ragen, während der Rest der Stadt wie unter einer dicken Schneeschicht versunken ist. Mit zitternden Knien bleibt Shepard dann stehen, um nach Atem zu ringen und die Heerschar der Geister zu betrachten, die im Nebel an ihm vorüberzieht. Ein Immobilienmakler hat ihm erzählt, dass die Häuser entlang der San-Andreas-Verwerfung nur deshalb so viel kosten, weil sich manche Leute, wenn es dann so weit ist, das Schauspiel um keinen Preis entgehen lassen wollen. Der große Massenselbstmord. Fast so, als hätten die Bewohner von Pompeji Millionen Dollar springen lassen, um den Ausbruch des Vesuvs aus der ersten Reihe mitzuerleben.
    Jemand – er weiß nicht mehr, wer – hat ihm gesagt, dass nach Ansicht der Geologen der Golden Gate Park der einzige Ort sei, der von der Verwüstung möglicherweise verschont bleibt. Nach den Berechnungen, die Shepard anhand der vorliegenden seismischen Daten angestellt hat, befindet sich der Punkt, an dem die Erde am wenigsten beben wird, genau dort, wo seine Bank steht. Nicht zu weit vom Papierkorb und nicht zu nah am Weiher. Vergebens hat er versucht, ein Haus in der Nähe dieses Refugiums zu finden: Seine Frau Barbara verliebte sich in eine prächtige viktorianische Residenz mit violetter Holztäfelung auf dem einen der beiden Twin Peaks, und dort wohnen sie jetzt. Er aber muss jedes Mal, wenn die Panik ihn würgt, seine Bank aufsuchen, wo er zusieht, wie die künftigen Toten vor der großen Vernichtung noch rasch ihre Muskeln stählen.
    Im Grunde hätte Shepard alles, um glücklich zu sein: dieses schöne Haus, das nicht er ausgesucht hat, ein luxuriöses Feriendomizil in Colorado Springs, eine Villa auf Hawaii, eine liebende Frau und hellblonde Zwillinge. Sie heißen Meredith und Monica. Monica ist brav, Meredith lebhaft. Die eine lächelt wenig, die andere ist ein Sonnenschein, dessen Gelächter von früh bis spät das Haus erfüllt.
    Shepard besitzt außerdem ein Sportcoupé und einen Geländewagen für Ausflüge mit der ganzen Familie, eine Krankenversicherung aus Stahlbeton, eine der angesehensten Anwaltskanzleien an der Westküste und ein hübsches Aktienpaket. Und doch muss er, obwohl er sich dagegen zu wehren versucht, immer häufiger seine Bank aufsuchen.
    Shepard zündet sich eine Zigarette an und blickt dem Rauch nach, der in die laue Luft aufsteigt. Langsam wird ihm besser. Bis zur nächsten Panikattacke. Diesmal hat es ihn auf der Rückfahrt vom Flughafen Oakland überfallen, wo er Barbara und die Kinder abgesetzt hatte. Es war nur ein leises Zittern, das durch die Struktur der San Mateo Bridge lief. Und im selben Moment sah es aus, als würde über der Bucht ein Schwarm Stare, dicht wie
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