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Vielen Dank für das Leben

Vielen Dank für das Leben

Titel: Vielen Dank für das Leben
Autoren: S Berg
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der Praxis, der ihr wie der lange Lauf durch ein Kriegsgebiet erschien. Nie mehr würden die traurigen Straßen ihrer traurigen Stadt so angenehm einsam wirken.
    Als sie vom Gebärstuhl geschnallt wurde, stützte eine Schwester sie tatsächlich beim Aufstehen, eine Dienstleistung, die man nicht hatte erwarten können, eine andere nahm das Baby und verschwand damit, sie selbst war noch ein wenig unsicher auf den eingefrorenen Beinen. Sie wurde in ihr Krankenzimmer geführt und durfte sich ankleiden, sogar eine Dusche hätte ihr zur Verfügung gestanden. Duschen oder Baden war ein luxuriöses Geschenk, das sie unter anderen Umständen sofort angenommen hätte, doch leider war auch das Wasser kalt in jenem Sommer, und so reinigte sie sich nur flüchtig, vor den Augen der sechs anderen Frauen im Krankenzimmer. Eine Geburt ist keine besonders glamouröse Geschichte, die Frau begab sich mit ihrer kleinen Reisetasche, wie man es ihr angetragen hatte, ins Sprechzimmer des Chefarztes.
    Soso, Frau…, sagte Chefarzt Doktor Wagenbach und blickte sie nicht an, ein kahler Mann mit auffallend ausgefransten Ohren, als ob sie nachts mit Katzen raufen gingen, die Ohren, herzlichen Glückwunsch zur Geburt ihres Babys, sagte Doktor Ohr, und bevor sie antworten konnte, dass es völlig hinreichend sei, sie einfach nur als Frau zu bezeichnen, fuhr er fort. Dass ein Kind mit uneindeutigen Geschlechtsmerkmalen geboren wird, ist ja nun keine Seltenheit. Wir können da operativ erstaunliche Dinge machen. Sehen Sie, wir haben hier einen Penis, der aber auch Klitoris sein könnte, das Röntgen zeigt uns Eierstöcke und Hoden. Seit Doktor Money ist es üblich, uneindeutige Kinder dem Geschlecht zuzuweisen, das sich operativ leichter herstellen lässt. Ist das Glied so klein, dass vorhersehbar ein gebrauchsfähiger Penis auch mit umfangreichen operativ-rekonstruktiven Maßnahmen nicht hergestellt werden kann, dann muss entschieden werden, dass es sich um ein Mädchen handelt. Wir legen eine Neovagina an, die muss allerdings lange Zeit durch das regelmäßige Einführen eines Gegenstandes gedehnt werden. Eine Gurke zum Beispiel. Sagte der Chefarzt und lachte noch nicht einmal über sich selber. Die Frau konnte die Sätze des Arztes nicht mit dem Baby in Zusammenhang bringen, mit dem sie ebenfalls in keiner Verbindung stand. Wonach sieht es denn eher aus, fragte sie den Arzt. Der schaute sie kurz an, und die Frau meinte einen leichten Ekel in seinem Gesicht auszumachen.
    Es ist ein Nichts. Sagte er.
    Wenn sie gestatten, mache ich schnell ein paar Aufnahmen, und ohne die Antwort abzuwarten, nahm er das Baby und hielt es in der einen Hand, während er mit der anderen fotografierte. Die Frau sah das Kind an. Ein Nichts hätte sie gutgeheißen, doch das Baby sah zu wenig nach Nichts aus, als dass sie es einfach hätte ignorieren können. Es hing an der Hand eines Ohrbehinderten und schaute sie an. Lasst mich einfach in Ruhe, schien der Blick zu sagen, aber das war vermutlich wieder eine Interpretation, denn die Frau hatte einmal gelesen, dass der Intellekt eines Babys nicht weit über dem eines Staubsaugers liegt. Sie könne im Moment keine weiterreichenden Entscheidungen treffen, später, wenn sie ausgeruht wäre, sagte sie und verabschiedete sich. Kurz verzog das Gesicht des Arztes sich unwillig, er hatte sich wohl bereits ausgemalt, wie er eine Grube ausheben würde, in dem Babyleib, an das Blut mochte er gedacht haben und an das Wohlgefühl, wenn er Handschuhe über die sterilisierten Hände gestülpt bekam, von devoten Assistentinnen.
    Das Baby wie ein geschrumpfter Erwachsener auf ihrem Arm, sogar seine dichten schwarzen Haare hatten sich eigenständig korrekt um einen Seitenscheitel geschichtet, verließ die Frau das Krankenhaus, nach dem Unterzeichnen eines Dokuments, dass sie das auf eigene Verantwortung tat. Eine ungewöhnliche Wortwahl, in dem Land, in dem alte Nationalsozialisten Kommunismus spielten und fast jeder jede Verantwortung mit großer Bereitschaft abgegeben hatte. Es ist etwas genetisch Verankertes in diesem Volk, egal, was für ein Theaterstück es gerade aufführt, dieses Abgeben von Verantwortung, und sie tun es gerne, um danach abhängig von Anerkennung und Bestrafung zu sein. Eine sadomasochistische Volksseele, falls ein Volk eine Seele haben kann, falls es so etwas gibt und es nicht nur die verkürzte Darstellung der Stimmung ist, die ein Fremder auf den Straßen eines Landes spürt.
    Kalter Wind wehte träge hängende
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