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Cirrus Flux - Der Junge, den es nicht gab

Cirrus Flux - Der Junge, den es nicht gab

Titel: Cirrus Flux - Der Junge, den es nicht gab
Autoren: Matthew Skelton
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Prolog
Der südliche Ozean
1756
    Der Junge hört etwas gegen die Schiffswände kratzen – ein hartnäckig schabendes Geräusch, als hätte die See Krallen bekommen und fordere Einlass. Seit unzähligen Tagen ist die Destiny, das Schiff Seiner Majestät, unterwegs in unerforschten Meeren, hat immer neue Breitengrade gekreuzt, bis sie schließlich nicht weiter Richtung Süden vordringen konnte. Eine undurchdringliche Eis- und Nebelwand blockiert ihren Weg.
    Ist hier das Ende der Welt?, denkt der Junge. Haben wir es nun erreicht?
    Unbehaglich bewegt er sich unter dem Deckenberg auf seinem Körper und versucht zu schlafen, aber es ist so kalt, dass die Härchen in seinen Nasenlöchern aneinander haften, als wären sie zusammengenäht. Für ein paar Stunden haben ihn seine Träume betäubt, haben ihn zurückgetragen auf die Wiesen und Felder rings um das Findelhaus in London, wo er vor wenigen Jahren erst ein nützliches Handwerk als Schnurmacher und Netzweber erlernt hatte. Und nun erwacht er in eiskalten Gewässern auf der anderen Seite der Welt, wo ihm allmählich das Blut in den Adern gefriert.
    Die Kälte zwingt ihn, sich zu bewegen.
    Der Junge schwingt die Beine über den Rand der Hängematte und lässt sich zu Boden gleiten. Um ihn herum liegen Männer im Schlaf. Er achtet darauf, sie nicht zu wecken, während er durch die enge Mannschaftskajüte zur Treppe schleicht. Für viele ist es die zweite oder schon die dritte Fahrt in die südlichen Breiten der Welt, und sie sind an das harte Leben gewöhnt. Ihre Gesichter sind wettergegerbt, ihre Bärte grau vom Frost.
    Vor dem Schott ausgestreckt findet er Felix Hardy, seinen Freund aus Kindertagen. Eigentlich müsste er oben Wache halten, darauf achten, ob das Schiff nicht auf Eis lief. Doch der großgewachsene stämmige junge Mann war nachts unter Deck geschlichen und in seiner schweren Wolljacke eingeschlafen. Einen Augenblick betrachtet ihn der Junge, aber er bringt es nicht übers Herz, ihn zu wecken. Noch hängt ein Hauch von Rum im Atem des Freundes, und auf seinem rotwangigen Gesicht liegt ein Lächeln. Der Junge zieht seine Jacke enger um die schmalen Schultern und steigt die hölzerne Treppe zum Deck hinauf.
    Draußen blendet ihn gleißende Helligkeit. Der eisige Nebel, der sie, seit sie die Spitze von Kap Hoorn umrundet hatten, wochenlang begleitete, hat sich plötzlich gelichtet, und der Himmel ist wie hellblau gepudert. Eisberge, groß wie Kathedralen, ragen neben den Schiffswänden auf.
    Noch nie hat der Junge einen so trostlosen, einen so wunderschönen Ort gesehen. Auf einmal verflüchtigen sich all die Entbehrungen, unter denen er zu leiden hat – das elende Essen, die schwere körperliche Arbeit, die Anfälle von Seekrankheit –, und fieberhafte Erregung tritt an ihre Stelle. Er erinnert sich an seine Begeisterung damals, als er auf der Werft von Deptford an Bord dieses Schiffes gegangen war, an seine Träume vom großen Abenteuer, und schlittert von einer Seite des Decks zur andern, er will diese wundervolle Umgebung ganz in sich aufnehmen.
    Da spürt er etwas. Ein schwaches Knistern in der Luft, einen Hauch nur – es ist fast, als atme das Eis.
    Sofort klingen ihm Mr Whipstaffs Worte in den Ohren, der ihn in der Kunst der Navigation ausbildet. ›Unbekannte Kräfte sind in dieser Welt am Werk, Jungen. Und auch wenn wir ihren Ursprung nicht immer erraten können, so erkennen wir doch ihre Existenz. Gebraucht euren Verstand als Kompass, er wird euch selten in die Irre führen.‹
    Und schon klettert der Junge die Strickleiter bis zur Mastspitze hinauf, um besser sehen zu können. Die Sprossen sind mit Eis beschichtet und rutschen unter den Füßen weg, doch er ist an das Klettern in solcher Höhe gewöhnt, selbst bei stürmischem Wetter, und es dauert nicht lange, da steht er auf der kleinen Plattform hoch über dem gefrorenen Deck. Hier oben ist die Luft noch kälter, an seinen Wimpern bilden sich Eisspitzen, doch er wischt sie mit dem Ärmel weg und blickt in die Ferne.
    Nichts. Nichts als leuchtend weiße Endlosigkeit, nichts als Eis und Wasser, so weit er schauen kann.
    Er greift in die Tasche, zieht ein kleines Fernglas aus Messing heraus und hält die eiskalte Linse an sein Auge. So kalt sind seine Hände, dass die Welt zittert. Trotzdem gelingt es ihm, das Glas auf die eintönige Weite zu richten.
    Und dann bricht sich sein Atem Bahn in einer silbrigen Wolke – in einem Aufschrei. Denn am Horizont schiebt sich etwas in sein Blickfeld,
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