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Vielen Dank für das Leben

Vielen Dank für das Leben

Titel: Vielen Dank für das Leben
Autoren: S Berg
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Lebenssinn von Erwachsenen, Ritalin noch nicht erfunden, und dennoch zögerte die Frau kurz, als ahnte sie, dass man Babys nicht allein in Trinkerwohnungen liegen lassen soll, doch sie konnte auf ihr Zögern keine Rücksicht nehmen. Zu stark war ihre Sehnsucht nach Entspannung und einem farbigen Schleier, zu mächtig der Wunsch zu fliehen, ich bin kurz weg, fass nichts an, sagte sie zu Toto, schloss die Tür und atmete tief durch. Zwischen den Häusern aber wurde sie sofort traurig, die Stimmung, die von den bröckelnden Fassaden, von den unbehandelten Einschusslöchern aus dem letzten Krieg und den leeren Läden auszugehen schien, machte sie langsam, wie wenn sie im Stillstand unter Wasser liefe, ein Teil der Lähmung, die alle ergriffen hatte, die mit gesenktem Kopf über die Straßen schlichen, nur nicht aufblicken, nicht munter werden, einfach weiterschlafen, auf ein Ufo warten. Die Stimmung im Feldversuch Sozialismus war so durchdringend trostlos, die Gesichter waren so müde, dass selbst Sonnenschein kaum helfen konnte. Als würden sich sogar die jungen Menschen nicht einmal mehr verlieben, aus Langeweile paaren und nur, um im Anschluss eine eigene Wohnung zu bekommen, in der sie dann sitzen und warten konnten. Wenn man den Menschen den Kapitalismus nimmt, bleibt von ihnen wohl nicht viel übrig.
    Die Frau kaufte Stoffwindeln, man musste sie nach Verwendung auskochen, das alles war ihr ein Rätsel, sie kaufte Trockenfutter, in der Hoffnung, damit hätte die Ernährungsfrage sich geklärt, vielleicht konnte sie die Nahrung einfach in einen Napf am Boden geben, aus dem das Baby sie zu sich nehmen würde. Der Rückweg führte an einem der Lokale vorbei, in dem sie noch bis vor wenigen Wochen die Nächte verbracht hatte. Seltsam fremd lag der verrauchte Raum, der nach Bier roch und nach zu viel Dunkelheit. Für einen Moment fragte sie sich, was sie hier getan hatte. Mit wem hatte sie geredet und wodurch war der Irrtum entstanden, dass hier ihre Freunde verkehrten? Am Tresen saß ein Mann, eingesunken, an den Strand gespült, ein Stück Abfall, schien es, von keinem je berührt. Die Frau kannte ihn. Er war einer dieser Menschen, die in Krankenhäusern leben. Immerzu hängen Schläuche aus den Bäuchen von Männern wie ihm, da wird abgeschnitten, transplantiert, verpflanzt, um etwas am Leben zu halten, das doch so gar nicht leben will. Die Frau trat zu dem gelblichen Mann, der kurz aufblickte, mit Augen, wie Hunde sie haben, so schwer und verzweifelt, und sie wusste wieder, was sie hier gemacht hatte. Ein altes französisches Chanson aus dem Radio, Schwermut umhüllte die Frau und den Mann, sie saßen da, an Rollstühle gefesselte Passagiere im Tanzsaal eines untergehenden Schiffs.
    Sie waren verzweifelt, und sie betranken sich, sie drängten ihre Körper aneinander im Rausch, der sie von Hemmungen befreite, und um nicht mehr einsam zu sein.
    Der Frau fiel ein, dass sie einen neuen, sehr kleinen Menschen hatte, den sie wachsen lassen könnte und der immer bei ihr wäre, zumindest so lange, bis er sie zu hassen begann, mit eintretendem Verstand. Sie könnte mit ihrem Kind im Bett liegen, draußen würde Schnee fallen, und sie würden zusammen Bücher lesen und Gebäck essen.
    Fast rannte die Frau zurück in ihre Wohnung, eine Angst war da, das Kind hätte sich etwas angetan, doch als sie die Tür öffnete und das Kind sah, wie es noch immer in unveränderter Position lag und abzuwarten schien, ahnte sie, dass sie sich mit ihm nie würde anfreunden können.
    Wie es schaute. Und wenn es doch wenigstens schreien wollte. War es verblödet? Normale Kinder schreien doch und fuchteln mit den Armen, und das hier, das lag da und betrachtete ruhig seine Hand, es sah diese Hand an, als ahnte es, dass da keiner war, dem er sie hätte zeigen können.
    Warte nur, die Frau, die aus unerfindlichem Grund eine Aggression gegen die Ruhe des Kindes in sich aufsteigen fühlte, lachte, warte, da wird nichts erfolgen. Keine Tür sich öffnen, aus der deine richtigen Eltern springen, Überraschung! rufend, um dich ins kapitalistische Ausland zu transportieren, wo sie ein Gestüt unterhalten. Keiner kommt, es gibt nur mich.
    Die Frau setzte sich vorsichtig, sie hatte gehört, dass man sich als Besitzer eines Kleinkindes leise zu verhalten hat.
    Sie musste nachdenken. Das hatte sie in der Zeit ihrer Schwangerschaft vermieden. Sie wollte sich nicht vorstellen, wie ihr Leben mit einem Kind aussehen sollte, sie konnte es sich ja nicht einmal ohne
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