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Eros und Evolution

Eros und Evolution

Titel: Eros und Evolution
Autoren: Matt Ridley
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EINS
DIE MENSCHLICHE NATUR
    Das seltsamste dabei war, daß sich die Bäume und alles andere um sie her überhaupt nicht vom Fleck rührten: wie schnell sie auch rannten, liefen sie doch anscheinend nie an etwas vorbei. »Ob vielleicht alles mit uns mitläuft?« dachte die arme verwirrte Alice im stillen. Und die Königin erriet anscheinend ihre Gedanken, denn sie rief: »Schneller! Jetzt ist keine Zeit zum Reden!«
    Lewis Carroll
Alice hinter den Spiegeln 1
     
    Wenn ein Chirurg einen Körper aufschneidet, dann weiß er, was er darin finden wird. Sucht er beispielsweise den Magen eines Patienten, dann erwartet er, ihn an einer ganz bestimmten Stelle zu finden. Alle Menschen haben einen Magen, alle menschlichen Mägen besitzen mehr oder weniger dieselbe Gestalt, und man findet sie alle am gleichen Platz.
    Zweifellos gibt es gewisse Unterschiede: Manche Leute haben einen kranken Magen, andere einen kleinen, wieder andere einen seltsam geformten Magen. Im Vergleich zu den Ähnlichkeiten aber sind die Unterschiede winzig. Ein Tierarzt oder ein Schlachter könnten dem Chirurgen von einer weit größeren Vielfalt an Mägen berichten: von riesigen Pansen mit mehreren Kammern, winzigen Mäusemägen, von fast wie menschliche Mägen aussehenden Schweinemägen. Man kann mit einiger Sicherheit sagen, daß es so etwas wie den typischen menschlichen Magen gibt und daß dieser sich von einem nichtmenschlichen Magen unterscheidet.
    Dieses Buch geht von der Annahme aus, daß es in genau derselben Weise so etwas wie eine typisch menschliche Natur gibt. Es hat zum Ziel, diese zu erkunden. So wie unser Magenchirurg kann auch ein Psychiater, auf dessen Couch sich ein Patient niedergelassen hat, von einer ganzen Reihe grundlegender Annahmen ausgehen. Er kann voraussetzen, daß der Patient weiß, was es heißt zu lieben, zu vertrauen, zu denken, zu sprechen, zu lächeln, zu träumen, zu singen, zu streiten, zu lügen, sich zu erinnern, etwas zu begehren, Angst zu haben und jemanden zu beneiden. Selbst wenn die betreffende Person von einem neu entdeckten Kontinent stammen würde, so wäre doch eine Vielzahl von Annahmen bezüglich ihres Verstandes und ihrer Natur unvermindert gültig. Als es in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts erstmalig zum Kontakt mit Volksstämmen aus Neuguinea kam, die bis dahin von der übrigen Welt isoliert gelebt hatten und von deren Existenz nichts wußten, stellte man fest, daß diese Menschen Freude und Unmut auf ebenso unmißverständliche Weise durch Lächeln beziehungsweise Stirnrunzeln kundtaten wie jedes Mitglied westlicher Lebensgemeinschaften – obgleich mehr als hunderttausend Jahre verstrichen waren, seit der letzte gemeinsame Vorfahre gelebt hatte. Das »Lächeln« eines Pavians ist eine Drohung, das Lächeln eines Menschen ist ein Zeichen von Wohlwollen; auf der ganzen Welt gehört es zur menschlichen Natur.
    Damit soll keineswegs der Kulturschock als solcher geleugnet werden.
    Augapfelsuppe vom Schaf, ein Kopfschütteln, das »Ja« bedeutet, der westliche Hang zur Privatsphäre, Beschneidungsriten, nachmittägliche Siesta, Religionen, Sprachen, die unterschiedliche Häufigkeit des Lächelns bei russischen und amerikanischen Kellnern – es gibt Myriaden menschlicher Besonderheiten – und es gibt ebenso viele Gemeinsamkeiten. Ein ganzer Wissenschaftszweig, die Kulturanthropologie, widmet sich dem Studium solcher kulturellen Unterschiede zwischen Menschen. Doch nimmt man dabei nur allzuleicht den Grundstock an Ähnlichkeiten, welche der menschlichen Spezies eigen sind, als gegeben hin – die gemeinsamen Merkmale des Menschseins.
    Dieses Buch fragt nach der Beschaffenheit dieser menschlichen Natur.
    Ihm liegt der Gedanke zugrunde, daß es unmöglich ist, die menschliche Natur zu verstehen, ohne verstanden zu haben, wie es im Laufe der Evolution zu ihr gekommen ist, und daß es unmöglich ist, zu verstehen, wie die Evolution menschlicher Natur verlaufen ist, ohne verstanden zu haben, wie sich menschliche Sexualität entwickelt hat. Denn Sexualität ist das Zentralthema unserer Entwicklungsgeschichte.
    Weshalb gerade Sexualität? Es muß doch neben diesem allgemein überbetonten und mühsamen Fortpflanzungsgeschäft noch andere Besonderheiten der menschlichen Natur geben? Das ist durchaus richtig, aber die Fortpflanzung ist der einzige Zweck, zu dem ein menschliches Wesen konstruiert ist – alles andere ist Mittel zu diesem Zweck. Menschen haben die Fähigkeit geerbt, überleben, essen, trinken
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