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Der Kuß der Schlange

Der Kuß der Schlange

Titel: Der Kuß der Schlange
Autoren: Ruth Rendell
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    Die Frau, die in der Victoria Station unter der Tafel mit den Abfahrtszeiten stand, hatte einen platten, rechteckigen Körper und ein ebenso rechteckiges wie eisenhartes Gesicht. Ein ausgebeulter, hellbrauner Filzhut umschloß ihren Kopf wie eine Walnußschale, ihre Hände steckten in hellbraunen Baumwollhandschuhen, und zu ihren Füßen stand ein robuster, aber kaum benutzter Lederkoffer, den sie vor fünfundvierzig Jahren auf ihre Hochzeitsreise mitgenommen hatte. Ihre Augen suchten den vorbeihastenden Strom der Berufspendler ab, und ihr Mund wurde immer verkniffener, bis die Lippen einer haardünnen Spalte glichen.
    Sie wartete auf ihren Sohn. Er hatte sich bereits eine Minute verspätet, und seine Unpünktlichkeit bereitete ihr wachsende Befriedigung. Sie war sich dieser heimlichen Freude kaum bewußt, und hätte man sie ihr vorgeworfen, so hätte sie sie abgestritten, genauso, wie sie abgestritten hätte, daß anderer Leute Fehlschläge und Versagen in ihr stets Vergnügen auslösten. Aber es war da, ein undefinierbares Wohlbehagen, das allerdings bei Roberts plötzlichem, hastigem Erscheinen ebenso rasch verschwand, wie es sich eingestellt hatte, und ihrer üblichen schlechten Laune Platz machte. Er war immerhin noch so pünktlich, daß jede Bemerkung über eine Verspätung absurd geklungen hätte. Also begnügte sie sich damit, seinen Lippen die ledrige Wange hinzuhalten und zu sagen:
    »Da bist du also.«
    »Hast du schon deine Fahrkarte?« fragte Robert Hathall.
    Sie hatte sie nicht. Sie wußte, daß er während der drei Jahre seiner zweiten Ehe immer knapp bei Kasse gewesen war, aber das war schließlich seine eigene Schuld. Wenn sie ihren Anteil selbst zahlte, würde ihn das bloß noch bestärken.
    »Du solltest lieber gehen und sie besorgen«, sagte sie, »oder willst du, daß wir den Zug verpassen?« Und sie preßte ihre festverschlossene Handtasche noch enger an sich.
    Er brauchte sehr lange. Sie stellte fest, daß der Zug nach Eastbourne, der in Toxborough, Myringham und Kingsmarkham hielt, um sechs Uhr zwölf abfahren sollte, und jetzt war es fünf nach. Wenn sie auch nicht bewußt daran dachte, wie wunderbar es doch wäre, den Zug zu versäumen, so gestand sie sich auch nicht bewußt ein, wie wunderbar es wäre, ihre Schwiegertochter in Tränen aufgelöst anzutreffen, das Haus schmutzig und natürlich keine Mahlzeit vorbereitet, so keimte wieder einmal jener angenehme Groll in ihr auf. Sie hatte sich mit tiefer Zufriedenheit auf dieses Wochenende gefreut, denn bestimmt würde alles danebengehen. Am liebsten wäre es ihr, wenn jetzt schon alles schiefginge. Ohne ihr Verschulden würden sie zu spät ankommen, und ihre Verspätung würde dann einen Streit zwischen Robert und Angela auslösen. Aber alles das schwelte verschwommen unter ihrer augenblicklichen Überzeugung, daß Robert wieder mal alles falsch machte.
    Immerhin, sie erreichten noch den Zug. Er war voll, und sie mußten beide stehen. Mrs. Hathall beklagte sich nie. Sie würde lieber ohnmächtig werden, als ihr Alter und ihre Krampfadern anzuführen, um diesen oder jenen Mann zu bewegen, ihr seinen Sitz zu überlassen. Stoische Selbstbeherrschung war ihr eigen. Also pflanzte sie ihren dicken Körper, der – hochgeknöpft bis zum steifen, hellbraunen Kragen – einem Schrank ähnelte, so auf, daß der Reisende auf seinem Fensterplatz weder die Beine bewegen, noch seine Zeitung lesen konnte. Sie hatte Robert nur eine einzige Sache zu sagen, und die konnte warten, bis weniger Zuhörer anwesend waren, außerdem konnte sie sich kaum vorstellen, daß er ihr etwas zu sagen hätte. Hatten sie nicht immerhin während der letzten beiden Monate die Abende sämtlicher Werktage gemeinsam verbracht? Aber wie sie mit einigem Staunen festgestellt hatte, waren die Leute ja imstande, daherzuplappern, auch wenn sie nichts zu sagen hatten. Das traf leider auch auf ihren eigenen Sohn zu. Grimmig hörte sie zu, wie er sich über die schöne Umgebung erging, die bald an ihnen vorbeiziehen würde, über die Annehmlichkeiten von Bury Cottage und wie sehr Angela sich darauf freue, sie bei sich zu haben. Auf diese Bemerkung hin erlaubte sich Mrs. Hathall eine Art Schnauben, ein zweisilbiges Grunzen irgendwo aus den Tiefen ihrer Stimmbänder, das notfalls als Lachen interpretiert werden konnte. Ihre Lippen bewegten sich nicht. Sie dachte an jenes eine und einzige Mal, als sie ihrer Schwiegertochter begegnet war. In diesem Zimmer in Earls Court hatte Angela die
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