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Ihr schafft mich

Ihr schafft mich

Titel: Ihr schafft mich
Autoren: Nikolaus Nuetzel
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eigene Schule aufmachen. Da wären die Psychos nicht nur die Mehrheit, sie hätten hundert Prozent.
    Wenn man sich andere Zahlen anschaut, kann man zu dem Ergebnis kommen: Die deutschen Jugendlichen stehen noch ganz gut da. Sie sind im Vergleich zu den Erwachsenen recht gesund. Denn wenn man alle Altersgruppen untersucht, findet man noch weit mehr Menschen mit psychischen Störungen. Eine Studie, die sich mit Ländern in der gesamten Europäischen Union befasst hat, kam im Jahr 2011 zu dem Ergebnis: 38,2 Prozent aller Einwohner der EU leiden mindestens einmal im Jahr an einer psychischen Störung, die »klinisch bedeutsam« ist. Das heißt, sie leiden an einer Störung, die so schwerwiegend ist, dass es sich lohnen würde, mal mit einem Arzt oder Psychotherapeuten drüber zu reden.
    Die schlechte Nachricht lautet also: Wenn jemand tief in eine Depression oder eine Psychose rutscht, braucht er Hilfe. Denn wer das Gefühl hat, dass die Welt ihn erdrückt, leidet darunter mehr als jemand, der sich ein Bein bricht. Die gute Nachricht: Wer spinnt, muss nicht denken, er sei allein. Die Verrückten sind viele. Sehr viele sogar. Das wiederum heißt: Sie sollten sich nicht von den vermeintlich Normalen auch noch in die Rolle einer bemitleidenswerten Minderheit stecken lassen. Zumal die Frage, was als geisteskrank zu gelten hat, eben nicht so leicht zu beantworten ist. Und zumal immer wieder neue Antworten gegeben werden.
    Vor gar nicht langer Zeit galt etwa nicht nur Selbstbefriedigung als Zeichen von Wahnsinn, sondern so gut wie jede Form der Abweichung von der Norm. Vor 60 oder 70 Jahren wären Leute wie Maria aus dem vorangegangenen Kapitel, die sich die Haare blau oder lila färben, für irre erklärt – und möglicherweise in die Psychiatrie gesteckt worden. Heute sitzen solche Leute auch mal in feinen Bürogebäuden oder unterrichten Schulklassen.
    Irrer oder Heiliger?
    Auch die Frage, ob Stimmen im Kopf ein Zeichen für akuten Wahnsinn sind, kann man ganz unterschiedlich beantworten. Was würde man sagen, wenn heute ein Vater mit seinem Sohn das Haus verlässt und ihm draußen in der Natur in aller Ruhe ein Messer an den Hals setzt, um das Kind zu töten? Jeder, der diesen Vater sieht, würde schreien: »Der ist komplett verrückt.« Auch wenn dieser Vater das, was er tut, damit erklären würde, dass er einen Befehl Gottes gehört hat, würde immer noch jeder sagen: »Der spinnt.« Wenn dieser Vater allerdings Abraham heißt und die Geschichte ein paar Tausend Jahre alt ist, sieht die Sache anders aus. Dann kann dieser Mann es schaffen, zu einer der wichtigsten Figuren im Glauben von Christen, Juden und Moslems zu werden.
    Auf die Frage »Was ist Wirklichkeit?« kann man also ganz unterschiedliche Antworten geben. Abraham hätte wahrscheinlich gesagt, es sei wirklich die Stimme Gottes gewesen, die ihm befahl, seinen Sohn zu töten. Und viele Christen, Juden und Moslems sagen heute noch, Abraham sei wirklich ein großer Mann gewesen. Wenn Abraham heute lebte und es ihn in eine psychiatrische Praxis verschlagen würde, dann bekäme er wahrscheinlich zu hören: »Sie haben wirklich ein psychisches Problem.« Oder volkstümlicher: »Sie sind wirklich verrückt, Herr Abraham.«
    Die Soziologen Peter Berger und Thomas Luckmann haben schon vor einigen Jahrzehnten festgestellt: Bei der Frage »Was ist Wirklichkeit?« kommt es ganz wesentlich darauf an, was eine bestimmte Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit als Wirklichkeit ansieht. Berger und Luckmann nehmen das Beispiel der Anhänger der Voodoo-Religion auf der Karibikinsel Haiti – und als Gegenstück nicht-religiöse Einwohner von New York. Und die Buchautoren schreiben: »In Haiti ist man von Dämonen besessen, in New York ist man neurotisch.« Sprich: Für die Anhänger der Voodoo-Religion in Haiti sind Dämonen Realität. Und sie haben auch Methoden, um Menschen zu helfen, von denen es heißt, dass sie von Dämonen besessen sind. Womit auf Haiti niemand etwas anfangen könnte, wäre eine Psychotherapie, wie sie in New York oder auch in Berlin üblich ist. In New York oder Berlin hingegen könnten Menschen, deren Probleme unter den Begriff »Neurose« oder »Psychose« gepackt werden, wahrscheinlich nicht viel damit anfangen, wenn ihnen jemand mit Voodoo-Beschwörungsformeln helfen wollte.
    Die Wirklichkeit ist
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