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Ihr schafft mich

Ihr schafft mich

Titel: Ihr schafft mich
Autoren: Nikolaus Nuetzel
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bei der Sozialisation (siehe Kapitel 6) etwas schiefgelaufen ist. Außerdem soll die Strafe andere abschrecken. Wer sich überlegt: »Eigentlich könnte ich meinem blöden Nachbarn mal ein Messer in den Bauch stoßen«, der soll vorher wissen: Darauf steht Gefängnis. Auch hier geht es also darum, dafür zu sorgen, dass Regeln befolgt werden.
    Das heißt, die modernen Rechtssysteme stützen sich auf folgende Annahme: Ein psychisch Kranker kann sich nicht frei entscheiden, ob er ein bestimmtes Verbrechen begeht oder nicht. Damit er keine Verbrechen mehr begeht, muss man ihn aus dem Verkehr ziehen und eventuell eine Heilung versuchen. Ein Krimineller hingegen könnte sich mit seinem freien Willen dagegen entscheiden, ein Verbrechen zu begehen. So vermutet man zumindest. Damit er seinen freien Willen künftig tatsächlich so einsetzt, muss der Kriminelle bestraft werden. Worum es in beiden Fällen nicht gehen soll, ist Rache, Vergeltung.
    Wenn der 19-jährige Volker einem Polizisten eine auf die Fresse gegeben hat, dann ist es nicht die Aufgabe des Richters, Volker mit einer Strafe sozusagen wiederum eine auf die Fresse zu geben – damit der geschlagene Polizist möglicherweise denken kann: »Geschieht ihm recht.« Es geht theoretisch zumindest darum, dass Volker lernt, sich künftig wieder normal zu verhalten. Und dazu gehört, dass man Polizisten nicht schlägt. Strafe soll also, wenn man so möchte, Kriminelle erziehen. Und wenn es um Kriminelle geht, die als psychisch krank gelten, dann geht es darum, sie zu heilen. So oder so will man sie dazu bringen, wieder normal zu sein. Wobei sich immer die Frage stellt: Was ist denn normal?

Kapitel Neunzehn
    Du bist ja nicht ganz gesund.
    Ist das noch im grünen Bereich, was ich will? Und was ist eigentlich normal?
    Es ist gruselig anzusehen, was mit dem 14-jährigen Martin geschieht. Sein Vater bindet ihm nachts die Hände ans Bettgestell. Denn der Vater will mit allen Mitteln verhindern, dass sein Sohn sich selbst befriedigt. Der Vater hält Masturbation für ein Zeichen von Geisteskrankheit. Eine Krankheit, die auch den Körper zugrunde richtet, warnt er seinen Sohn. Bis hin zu einem grausamen Tod. Ein anderer Jugendlicher sei daran jämmerlich krepiert, erklärt der Vater.
    Wenn man es heute so schreibt und liest, klingt eine solche Geschichte zum Lachen. In Michael Heneckes Film »Das weiße Band« ist die Geschichte vom evangelischen Pastor, der seinen Sohn fesselt, um ihn vom Onanieren abzuhalten, aber auf entsetzliche Weise beklemmend. Der vielfach ausgezeichnete Film lässt keinen Zweifel: So war das vor gut hundert Jahren in vielen Familien tatsächlich. Masturbation galt als Zeichen von Wahnsinn. Als »ausgesprochen widerwärtige Form der Geisteskrankheit« beschrieb der britische Psychiater Henry Maudsley im 19. Jahrhundert die Selbstbefriedigung. Und viele seiner Zeitgenossen sahen das ganz genauso.
    Heute gilt unter allen, die sich mit dem Thema beschäftigen, eher: Unnormal ist es, nicht an sich selbst Hand anzulegen. Verschiedene wissenschaftliche Studien kommen zum gleichen Ergebnis: Von 100 Männern und Jungs müssten rund 90 auf das Wort »Wichser« ehrlicherweise antworten: »Ja, das bin ich.« Bei den Frauen und Mädchen liegen die Zahlen etwas niedriger – aber auch hier reichen die Statistiken über 80 Prozent.
    Die Meinungen darüber, was Wahnsinn ist und was Normalität, können also recht schnell wechseln. Was an einem nichts ändert: Es gibt natürlich Verrückte. Es gibt Menschen, die psychisch krank sind und so sehr darunter leiden, dass sie Behandlung brauchen. Nur wie viele Menschen wirklich so sehr von der Norm der psychisch Gesunden abweichen, dass sie behandelt werden müssen, das kann man ganz unterschiedlich sehen.
    Der ganz normale Wahnsinn
    Auch hierzu eine Zahl: Jeder vierte Jugendliche litt im Jahr 2011 an psychischen und seelischen Störungen, die so schwerwiegend waren, dass sie eigentlich hätten behandelt werden müssen. Jeder Vierte?! Von hundert Jugendlichen sind 25 so sehr neben der Spur, haben solche Ängste, so schwere Depressionen, dass sie ärztliche Hilfe brauchen?

    Das ist kein Druckfehler, sondern das Ergebnis einer Studie der Techniker Krankenkasse. Das heißt: Wenn man eine Schule mit 1600 jungen Leuten nimmt, haben 400 von ihnen eine psychische Störung. Mit denen könnte man schon eine
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