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Ihr schafft mich

Ihr schafft mich

Titel: Ihr schafft mich
Autoren: Nikolaus Nuetzel
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keine Rolle. Ein Stein, der auf den Boden fällt, entscheidet sich nicht, ob er etwas schneller oder etwas langsamer fallen möchte. Er folgt Naturgesetzen, die die Geschwindigkeit seines Fallens vorgeben. Und weil der Stein diesen Gesetzen folgt, ist die Art und Weise, wie er fällt, berechenbar.
    Wenn im Gehirn 100 Milliarden Nervenzellen über 100 Billionen Verknüpfungspunkte miteinander in Kontakt treten und dabei menschliches Bewusstsein entsteht, dann ist das Ganze zwar gigantisch viel komplexer als das Herunterfallen eines Steins. Doch das ändere nichts daran, dass die Abläufe im Gehirn den Naturgesetzen unterliegen, erklären viele Hirnforscher. Der Wissenschaftler Wolf Singer hat deshalb geschrieben: »Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen.«
    Eine Welt voller Roboter?
    Singer meint damit allerdings nicht, dass die Menschheit aus lauter programmierten Maschinen besteht, von denen sich genau vorhersagen lässt, wann sie was tun werden. Ihm ist klar, dass für eine solche Vorhersage schon jedes einzelne Gehirn zu kompliziert ist. Im Labor können Wissenschaftler zwar aus den Messergebnissen in den Nervenzellen von Schnecken ziemlich genau vorhersagen, wie der nächste Zustand dieser Nervenzellen sein wird. Daraus lässt sich mitunter auch vorhersagen, was eine Schnecke als Nächstes tun wird. Aber das ganze Hirn eines Menschen ist etwas anderes als einige Nervenzellen einer Schnecke. Man kann vielleicht bei einer Schnecke durch entsprechende Messungen vorhersagen, ob sie beim Kriechen links abbiegen wird oder rechts. Man kann aber nicht Volker Elektroden in den Kopf stecken und berechnen, ob er sich in Maria verlieben wird.
    Im Kopf jedes einzelnen Menschen geht es also schon zu kompliziert zu, als dass man genau vorhersagen könnte, was er als Nächstes macht. Und wenn Menschen miteinander sprechen, sich Nachrichten schicken oder auch nur sich ansehen, dann beeinflussen sie sich gegenseitig. Das Hirn des einen löst im Hirn des andern immer wieder Neues aus. Es geht also nicht nur um die Frage, ob sich vorhersehen lässt, was durch das Wechselspiel von 100 Milliarden Nervenzellen in einem einzelnen Gehirn entsteht. Es geht auch um die Frage, ob sich berechnen lässt, was durch das Wechselspiel von sieben Milliarden Gehirnen entsteht. Und da räumen sämtliche Hirnforscher ein: Selbst wenn so etwas theoretisch möglich sein sollte – das menschliche Gehirn ist schon mal nicht dazu in der Lage, eine so komplexe Berechnung anzustellen. Das heißt, für die Menschen selbst bleibt ihr eigenes Verhalten immer unberechenbar.
    Dennoch bleibt Wolf Singer dabei: Wenn man es auf einer naturwissenschaftlichen Basis zu Ende denkt, existiert kein freier Wille. Er meint damit vor allem, dass es keinen »Freiheit-Modus« gibt, den Menschen anschalten können, um anschließend völlig freie Entscheidungen zu treffen. Wenn es bei Maria beispielsweise zu ihrer Persönlichkeit gehört, dass es sie nervös macht, vor mehreren Menschen zu sprechen, dann passiert ihr bei jedem Referat in der Schule unausweichlich das Gleiche: Das Herz beginnt zu rasen und der Mund wird trocken. Wenn Maria in das kleine System der Schulklasse eingespannt wird, hilft es ihr nichts, zu sagen: »Ich will jetzt cool sein. Ich treffe die freie Entscheidung, cool zu sein.« Da lässt sich kein Schalter umlegen. Da ist der Wille nicht frei.
    Dabei kann es sein, dass dieses Leicht-Nervös-Werden schon zu einem guten Teil zu Marias Persönlichkeit gehörte, als sie auf die Welt kam. Es kann auch sein, dass sie das Leicht-Nervös-Werden erst später sozusagen gelernt hat. Weil ihre Eltern immer große Erwartungen an sie hatten. Oder weil sie nicht so gut in der Schule war wie ihre große Schwester. So oder so: Es gehört einfach zu ihr dazu, dass sie leicht nervös wird, wenn sie vor Leuten spricht. Das kann sie nicht einfach abschalten. Da ist sie nicht frei.
    Was für sie aber schon möglich ist: die Entscheidung, das Sprechen vor anderen zu üben. Und dabei könnte sie eine Auswahl unter verschiedenen Techniken oder Kursen treffen. Menschen leben also nicht in einer Welt mit völliger Entscheidungsfreiheit. Aber sie leben in einer Welt, in der sie immer wieder Entscheidungen treffen können, bei denen sie einen – jeweils unterschiedlich großen – Entscheidungs spielraum haben.

    Wir sind so
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