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Ihr schafft mich

Ihr schafft mich

Titel: Ihr schafft mich
Autoren: Nikolaus Nuetzel
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junge Leute, die etwas machen, was man zwar auf den ersten Blick nicht versteht – was aber in berechenbaren Bahnen verläuft.
    Daraus kann man schon einmal einen ebenso einfachen wie weitreichenden Schluss ziehen: Eine Norm – oder auch eine Regel – entsteht dadurch, dass Menschen gemeinsam dieser Norm folgen. Jana geht nie allein als Yuko Ichihara auf die Straße. Sie würde das Dimensions-Hexen-Kostüm auch nicht anziehen, wenn sie tanzen geht. Und schon gar nicht, wenn sie sich auf den Weg in das Büro macht, in dem sie arbeitet. Sie ist ja nicht verrückt. Sie befolgt genaue Regeln. Es gibt bestimmte Tage und Orte, an denen Cosplay angesagt ist. Und Cosplay ist nur dann Cosplay, wenn eine ausreichend große Gruppe die Sache gemeinsam angeht.
    Zwischen Normalität und Wahnsinn
    Wenn jemand ganz allein gegen bestimmte Regeln verstößt, dann gilt er als skurril, im Zweifelsfall sogar als verrückt. (Mehr über die Grenze zwischen Normalität und Wahnsinn im Kapitel 19.) Als skurril zu gelten, kann eine Zeit lang ganz unterhaltsam sein. Als verrückt zu gelten, macht aber auf Dauer kaum jemandem wirklich Spaß. Mensch sein heißt, in Gesellschaft leben wollen. Wer als verrückt gilt, ist schnell komplett draußen aus der Gesellschaft. Und das tut weh.
    Wenn aber mehrere Leute gemeinsam auf die einigermaßen gleiche Weise gegen Regeln verstoßen, schaffen sie damit ihre eigenen Regeln. Manche halten dann zwar die ganze Gruppe für einen Trupp von Irren. Doch die Gruppe versichert sich gegenseitig: Wir sind nicht irre. Wir sind anders. Aber gemeinsam anders. Und unter uns sind wir ja gar nicht anders, sondern gleich. Das kann mit der Kleidung anfangen – und sich aufs gesamte Leben ausdehnen.

Kapitel Zwei
    Wir sind alle völlig verschieden! Ich nicht.
    Was das Äußere mit mir zu tun hat. Was Nacktsein mit Normen zu tun hat. Wie sich Normen ändern. Und was das alles mit Autonomie zu tun hat.
    Wir sehen es an Jana und ihrer Verkleidung als Hexe der Dimensionen: Cosplayer sind nur Cosplayer, wenn sie nicht allein sind. Nur dann gelten sie nicht als Spinner. Auch der 50-jährige Bankberater, der von Montag bis Freitag im Anzug herumläuft, ist nicht verrückt. Deshalb legt er diesen Anzug lieber ab, wenn er seine 16-jährige Tochter zum Revival-Konzert von Take That oder seinen 15-jährigen Sohn zu einem Konzert der Alt-Punkrocker von Greenday begleitet. Sakko und Krawatte auf dem Boulevard of broken dreams? Geht gar nicht.
    Wenn es dem Banker aber eines Tages gelingt, auch seinen Sohn zu überreden, dass er sich um eine Banklehre bewirbt, dann wird der 50-Jährige dem jungen Mann wiederum raten, auf dem Bewerbungsfoto das Augenbrauen-Piercing herauszunehmen. Und aufs Färben der Haare vorher zu verzichten.
    Was die richtige Kleidung ist, hängt also von der Situation ab. Das kann so weit gehen, dass die richtige Kleidung gar keine Kleidung ist. Am Nacktbadestrand macht sich derjenige verdächtig, der etwas anhat, während alle anderen unbekleidet durch die Gegend laufen. Denn bei dem Nacktheits-Verweigerer liegt die Vermutung nahe, er könnte ein Spanner sein, der selbst nichts zeigen will. Auch Nacktsein kann also zur Kleidernorm werden. Und sogar mit der Norm des Nacktseins kann eines geschehen, was bei Normen gern mal passiert: Sie ändern sich. Und zwar rasant.
    Nackt oder nicht nackt, das ist hier die Frage.
    Ein Beispiel dafür ist Bayerns Landeshauptstadt München. Zu seinen Touristenattraktionen zählen nicht nur das Hofbräuhaus oder das Olympiastadion. Sondern auch die Nackerten . Sie gehören seit vielen Jahren zum größten Park der bayerischen Landeshauptstadt wie Weißbier und plätschernde Bachläufe. An diesen Freundinnen und Freunden der unbedeckten Haut lässt sich eines schön studieren: wie zügig sich das Verhalten von Menschen wandeln kann. Vor 50 Jahren wäre es auch in München undenkbar gewesen, dass massenhaft Menschen in aller Öffentlichkeit ihre Kleidung abstreifen. Dann kam die berühmt-berüchtigte 68er-Zeit. Freiheit hieß mit einem Mal auch: Freiheit vom Zwang, bekleidet zu sein.
    Ziemlich schnell tummelten sich so viele nackte Männer und Frauen im Englischen Garten, dass die Behörden die Sache gar nicht mehr in den Griff bekommen hätten – wenn sie es denn versucht hätten. Münchens Nackerte wurden aber bald auch eine
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