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Ihr schafft mich

Ihr schafft mich

Titel: Ihr schafft mich
Autoren: Nikolaus Nuetzel
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wie sie sich kleiden, doch reichlich ähnlich. Da trägt im Winter keiner einen Mantel mit handbreiten roten und grünen Streifen. Die Farben lauten: Dunkelgrau, Schwarz, Dunkelbraun, Dunkelblau. Vielleicht mal Rot. Vielleicht mal Beige. Aber wer wie gesagt mit handbreiten rot-grünen Streifen auf dem Wintermantel oder Anorak herumläuft, bringt sich schnell in den Verdacht, er sei eigentlich ein Fall für die Psychiatrie.
    Allerdings würde es auch schwerfallen, einen solchen Mantel zu bekommen. Kaum ein Geschäft wird ihn anbieten. So erklärt sich auch die Antwort, die 2012 ein 17-Jähriger auf die Frage gegeben hat, was es eigentlich mit Individualität zu tun hat, wenn in einer Gruppe von acht Jugendlichen fünf ein Kapuzen-Shirt tragen. »Man kann ja so gut wie nichts anderes kaufen«, meinte er. Gut möglich, dass das 2016 oder 2017 schon wieder ganz anders ist.
    Wer entscheidet über mich? Kleine Wortkunde der Autonomie
    Sein Leben selbst zu gestalten, gilt in modernen westlich orientierten Gesellschaften als erstrebenswert. Wer so lebt, lebt autonom. Denn er gibt sich die Regeln und Gesetze (die heißen auf Griechisch nómos ) seines Lebens selbst (das wiederum heißt auf Griechisch autós ). Selbstbestimmung können auch ganze Gruppen oder Staaten für sich beanspruchen – sie fordern dann Autonomie . Das Gegenstück dazu ist die Heteronomie . Wer sich nach dem richtet, was jemand anders (Griechisch: héteros ) sich ausdenkt, lebt dementsprechend heteronom . Das gilt nicht nur für die Regeln, die einzelne Menschen aufstellen, sondern auch für die Regeln, die durch eine Gruppe gesetzt werden. In eine Heteronomie gebracht werden kann man aber auch durch Regeln, von denen man glaubt, ein übermenschliches, göttliches Wesen habe sie aufgestellt. Wer sich an die Zehn Gebote nur hält, weil er in ihnen den Willen Gottes sieht, der handelt nicht autonom. Anders ist das, wenn jemand die Zehn Gebote zu seinen eigenen Regeln gemacht hat. Weil er sie nach reiflicher Überlegung für gut und richtig hält.
    Leute machen sich selbst – auch durch Kleider.
    Das alte Sprichwort »Kleider machen Leute« gilt also unverändert. Es gilt aber auch: Leute werden durch Kleider gemacht. Liebe Grammatik-Tüftler: Hier ist nicht nur eine Umwandlung eines aktiv formulierten Satzes in einen passiven Satz gemeint. Es geht um mehr. Ab dem ersten Moment, in dem der Körper eines Menschen mit Stoff bedeckt wird, wird dieser Mensch einer bestimmten Gruppe zugeordnet. Viele Krankenhäuser stecken neugeborene Mädchen direkt nach der Geburt in rosa Strampler, Jungs in blaue. Später, wenn Kinder, Jugendliche und Erwachsene immer stärker selbst entscheiden, was sie anziehen, kommen sie aus dieser Zuordnung zu einer Gruppe nicht mehr heraus.
    Sie wissen beispielsweise, wie man in etwa auszusehen hat, wenn man als Schüler morgens in die Schule geht. Ein evangelisch getaufter 14-Jähriger, der am Tag nach seiner Konfirmation noch einmal seinen Konfirmationsanzug anzieht und in dieser Aufmachung das Klassenzimmer betritt, fällt damit so sehr auf, dass er es nicht lange aushalten wird. Schlimmer wäre es wohl nur, wenn er das Konfirmationskleid seiner Schwester anzöge.
    Aber nicht nur das Befolgen der üblichen Kleidernormen folgt bestimmten Regeln. Auch der Verstoß dagegen erfolgt nach mehr oder minder strengen Regeln. Emo oder Punk mit weißen Lederstiefeletten? Sicher nicht. Wer als Punk, als Emo oder auch als Surfer oder Skater erkennbar sein möchte, der muss sich logischerweise einige entsprechende Erkennungsmerkmale zulegen.
    Auch der Lübecker Hauptschul-Direktor Matthias Isecke-Vogelsang, der mit seiner außergewöhnlichen Frisur und seiner auffälligen Kleidung Schlagzeilen gemacht hat, schnallt sich nicht morgens einen Blumentopf auf den Kopf und stellt sich dann vor seine Schulklassen. Sondern er geht mit einer grün-gelb gefärbten Irokesen-Frisur in die Schule. Wenn er sich fotografieren lässt, trägt er eine planmäßig zerfetzte Jeans und ein Totenkopf-Fan-T-Shirt des FC St. Pauli. Dann ist die Sache einfach. Es ist sofort klar, zu welcher Gruppe der Mann gehören möchte: Er will Punk sein.
    Bemerkenswert dabei: Wie ein Punk auszusehen hat, darüber haben vor 30 bis 40 Jahren junge Leute Regeln aufgestellt, die heute immer noch von manchen Jugendlichen befolgt werden. Wenn sich heute ein
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