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Liebe Unbekannte (German Edition)

Liebe Unbekannte (German Edition)

Titel: Liebe Unbekannte (German Edition)
Autoren: István Kemény
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1.
DER LÖWENHOF
    „Die Bibliothek schließt in wenigen Minuten. Bitte, beenden Sie die Lektüre“, tönte es aus den Lautsprechern. Im Saal saß nur noch ein Leser.
    „Sie waren heute zum letzten Mal da“, sagte Gábor. „Darauf kannst du Gift nehmen!“ Ich wusste, dass er die
Großen
meinte, denn über sie hatte er gerade gesprochen.
    „Ich meine die
Großen
“, fügte er hinzu.
    „Ich höre dir zu“, sagte ich, da ich ihm wirklich zuhörte.
    „So siehst du aber nicht aus“, sagte er und stieß mich in die Seite. „Aber jetzt kannst du mal zuhören.“
    Er konzentrierte sich einen Moment lang, legte sich den Satz zurecht, wählte die passende Lautstärke und beugte sich dann mit entsprechendem Respekt ans Ohr des einzigen Lesers:
    „Nach unseren Informationen schließt die Bibliothek gleich.“
    Der einzige Leser, ein heruntergekommener Graf mit roten Wangen und in Reitstiefeln, öffnete die Augen mit ruhigem Gleichmut.
    „Taub bin ich nicht, mein Söhnchen“, sagte er mit einem Kopfnicken und ließ zu, dass Gábor, einem eifrigen Kellner gleich, seine Bücher wegbrachte: die zehn prächtigen Bände der
Genealogischen Beschreibungen der Familien des Ungarischen Hochadels
. Der Alte lieh sich jeden Nachmittag alle zehn Bände aus, baute aus ihnen eine Palisade, hinter der er bis zum Ende der Öffnungszeit schlief.
    „Ich hoffe, ich war nicht zu laut“, sagte Gábor. „Siehst du, deshalb muss man hier so furchtbar aufpassen. Man begeht unglaublich leicht einen Fehler. Du sprichst in der falschen Lautstärke und schon war’s das. Gleich denkt man, du gehörst zum Plebs. Das hier ist noch die
alte Welt
. Und von wegen, nicht taub.“
    Letzteres bezog sich auf den Grafen, man konnte aber auch denken, er meine die
alte Welt
. Für mich bezog es sich auf beide. In seiner Überschwänglichkeit formulierte Gábor manchmal etwas ungeschickt. Er war noch ein Neuling in der
alten Welt
. Gab sich jedoch größte Mühe, ihre Regeln zu verinnerlichen. Er verschlang sie förmlich. Vier schwere Bände drückte er mir in die Hand, die anderen sechs trug er. Allein schon die vier Bände wogen um die zehn Kilo.
    „Wir haben unsägliches Glück, dass auch diese Reihe nicht beendet wurde“, sagte er schniefend. „Denn geplant waren einundzwanzig Bände. In diesem blöden Land wurde noch nie auch nur eine einzige Reihe beendet.“
    Dabei grinste er jedoch, als wäre er mit diesem blöden Land in höchstem Maße zufrieden, da er genau das von ihm erwartete. Wir stellten die Bücher ins Nachtregal. Von hier sollten sie am nächsten Mittag wieder auf den Tisch des Grafen Frigyes Eédes wandern, um über seinen Schlaf zu wachen.
    „Aber wenigstens habe ich sie heute Mittag gesehen“, sagte Gábor. „Ich meine die
Großen
. Ich bin mir fast sicher.“
    „Du hast sie also noch gesehen“, sagte ich, was wider meinen Willen so klang, als würde ich mich über ihn lustig machen.
    Dabei war ich begeistert von der Vorstellung, dass es hier jemanden gab, für den es von Bedeutung war, irgendwann irgendjemanden gesehen zu haben, den es bald nicht mehr geben würde. Er stutzte, denn er hätte nicht gedacht, dass ich wirklich verstand, wovon er sprach. Dann entschied er, dass ich mich über ihn lustig machte.
    „Was suchst du eigentlich noch hier?“, fuhr er mich an. „Du wirst hier nicht mehr gebraucht. Geh auf den Hof.“
    „Du hast mich hierhergerufen.“
    „Hör auf zu quasseln. Mach schon. Geh durch den Hauptausgang hinaus und warte beim Personaleingang auf mich. Das ist alles, was du zu tun hast. Ich bin gleich fertig.“
    „Bitte, beenden Sie die Lektüre“, bat die schönste Stimme der Bibliothek, die Marcsi Áron, der stellvertretenden Audiotheksleiterin, gehörte, die Leser durch die Lautsprecher. Sie hatte sich vor Kurzem vom Audiotheksleiter scheiden lassen, was man ihrer Stimme jedoch nicht anhörte.
    Ich gehorchte widerwillig. Mit Schritten, die einen würdevollen Eindruck erwecken sollten, verließ ich den mit dem kleinen Lesesaal verbundenen Katalogsaal des Instituts. Ich beeilte mich keineswegs. In der Tür blieb ich sogar noch stehen, blickte demonstrativ zurück, um klarzustellen, dass ich mich nicht drängen ließ. Tante Gizella beugte sich bereits unter die Theke, um sich Lippenstift aufzutragen, warf mir aber noch einen mitleidsvollen Blick zu. Der arme Junge wartet auf Gábor, zumindest das wussten die Bibliotheksmitarbeiter auf jeden Fall über mich.
    Ursprünglich hatte ich den Bus Viertel vor
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