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Ihr schafft mich

Ihr schafft mich

Titel: Ihr schafft mich
Autoren: Nikolaus Nuetzel
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liegt eine Antwort nahe. In der Sexualität steckt so viel Energie, dass die Menschen diese Energie augenscheinlich bändigen wollen. Deshalb stellen sie gesellschaftliche Normen darüber auf, wie mit dieser Energie umzugehen ist. Zu diesen Normen gehört: Das Eine tut man nicht, wenn jemand zusehen kann. Und man läuft nicht ohne Kleidung durch die Gegend. Denn dann sind ja die Teile des Körpers sichtbar, die bei dem Einen zum Einsatz kommen.
    Finger weg von dem da unten
    Erwachsene und Jugendliche wissen das. Im Schwimmbad nackt zum Eisverkäufer schlendern? Undenkbar! Kinder allerdings wissen das noch nicht. Das acht oder neun Monate alte Krabbelkind wird von seinen Eltern noch nackt an den Sandstrand oder auch auf den Rasen des Freibades gesetzt. Das ist für dieses Kind dann das Normale. Irgendwann ab einem gewissen Alter bekommt dieses Kind dann von seinen Eltern eine Badehose angezogen. Damit lernt es: »Das macht man so.« Und bald schon hat das Kind eine Regel fest in sein Inneres aufgenommen: »In der Öffentlichkeit sind größere Kinder nicht nackt. Und Erwachsene schon gar nicht.« Auf Fachdeutsch: Das Kind hat diese Norm internalisiert . Man muss einem Achtjährigen nicht mehr sagen, dass er nicht nackt durchs Schwimmbad springen soll. Das würde er ganz von selbst nicht tun. Denn es wäre ihm unglaublich peinlich.

    Dieser Achtjährige hätte eine Sorte von Gefühl, die sehr kleine Kinder noch nicht kennen: das Schamgefühl . Es kann ein ausgesprochen mächtiges Gefühl sein. Manche Wissenschaftler sind der Ansicht, dass die Menschen in bestimmten Gesellschaften, vor allem in Asien, so sehr von diesem Gefühl gelenkt werden, dass man von ganzen Schamgesellschaften reden könne. Die Sorge, etwas zu tun, wofür man sich schämen muss, die Sorge, sein Gesicht zu verlieren , lenkt das Verhalten dieser Menschen vom Aufwachen bis zum Einschlafen.
    Deutschland und andere europäische Länder gehören nicht zu diesen Schamgesellschaften. Wie Schamgefühl entsteht, weiß aber jeder auf der ganzen Welt aus eigener Erfahrung. Wenn ein Dreijähriger öffentlich an seinem Geschlechtsteil herumspielt, werden die Erwachsenen noch kichern. Aber schon bald werden sie ihm sagen, dass er das mal sein lassen soll. Und auch durch das Kichern wird er merken, dass dieses Verhalten gegen bestimmte Regeln verstößt. Also lässt er es irgendwann sein. Selbst wenn es sich vielleicht ganz angenehm angefühlt hat.
    Das Gleiche gilt, wenn eine junge Frau stets Kleidungsstücke trägt, von denen sie findet, dass sie der jeweiligen Situation angemessen sind. Zum Beispiel eine schulterfreie Bluse beim Stadtbummel; eine Bluse, die die Schultern bedeckt, in der Kirche; einen Bikini am Strand. Sie tut das nicht, weil das jeweils das sinnvollste Verhalten ist. Man könnte ja denken: Schultern bedeckt in der Kirche – das ergibt Sinn, weil es dort kühl ist –; schulterfrei draußen und Bikini am Strand – das ergibt Sinn, weil es dort heiß ist. Die junge Frau interessiert sich aber nicht dafür, was Sinn ergibt. Sie kleidet sich vielmehr so, »weil man das so macht«. Weil sie die entsprechenden Regeln internalisiert hat. Und weil sie weiß, dass ein Verstoß gegen diese Regeln von ihrer Umwelt durch gewisse Sanktionen geahndet wird. Verwunderte Blicke. Vielleicht auch ein Kopfschütteln.
    Sie kennt diese Sanktionen so gut, dass sie es möglicherweise sogar schon unangenehm findet, wenn andere Leute gegen Regeln verstoßen. Kann sein, dass sie es zum Fremdschämen findet, wenn sie auf einer Urlaubsreise in Italien oder Spanien durch eine Fußgängerzone schlendert und sieht, wie andere Touristinnen lediglich mit Bikini-Oberteil durch die Gegend laufen. Was sie selbst nie täte.
    Falsche Mütze? Geldstrafe!
    Fürs Anziehen gibt es also Regeln. Allerdings hat es heutzutage selten allzu schlimme Folgen, wenn man in die falsche Hose oder das falsche Hemd schlüpft. Vielleicht kommt man nicht in den Club, in den man eigentlich möchte, vielleicht wird man komisch angeschaut. Aber wesentlich härter trifft es normalerweise niemanden, wenn er das Falsche anhat. Das war viele Jahrhunderte lang quer durch Europa ganz anders. Sogenannte Kleiderordnungen legten schriftlich fest, wer was anziehen durfte und wer nicht. Darin war beispielsweise genau geregelt, wie hoch die Hauben sein durften, die Frauen auf dem
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