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Ein Jahr in Paris

Titel: Ein Jahr in Paris
Autoren: Silja Ukena
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Wie ich nach Paris kam
    E S BEGANN IRGENDWANN kurz nach meinem 30. Geburtstag. Dieses kleine, nagende Gefühl, dass da doch noch etwas wäre. Warten würde. „Du spinnst“, sagte Georg, mein Freund, seit wir gemeinsam im Kindergarten der Frau Pfarrer die Bibel versteckt hatten, um zu sehen, ob sie es auch auswendig könnte. Sie konnte – aber das tut hier eigentlich nichts mehr zur Sache, jedenfalls sagte Georg: „Du spinnst. Dir geht es einfach nur zu gut.“ Womit er recht hatte, aber vielleicht war genau das der Punkt. Ich hatte einen passablen Job, einen netten Freund, der mich, zugegeben, einigermaßen langweilte, aber höchstwahrscheinlich auch heiraten würde, „wenn du das auch möchtest“. Ich hatte Freunde und eine Wohnung mit Balkon und Wäschetrockner. Alles bewegte sich in eine Richtung, die bestimmt nicht verkehrt war. Und trotzdem. Was war mit dem großen Rest? Dem Abenteuer, der Möglichkeit, auch ein anderes Leben zu leben?

    „Ich gehe nach Paris.“ Wohlweislich probierte ich diesen Satz zuerst bei Georg aus. „Du spinnst“, sagte er mal wieder. Er sagte das überhaupt sehr oft. „Muss es denn gleich Paris sein? Wie wäre es mit München? Da kannst du wenigstens arbeiten. Außerdem duschen sich die Franzosen nie.“ Diese Argumentation war zugegeben nicht ganz klar. Aber man muss dazu wissen, dass Georg Frankreich und alles, was damit zu tun hat, verabscheut. Seine Kenntnisse beruhen dabei auf einem Schüleraustausch in der neunten Klasse, den wir in der Normandie verbrachten. Nun war das nicht gerade derideale Einstieg, das stimmt. Es war unglaublich kalt und zugig, die Franzosen sprachen genauso wenig deutsch wie wir französisch, und es gab praktisch zu jeder Mahlzeit nach Salz schmeckendes Lammfleisch. Vor allem jedoch waren unsere Austauschpartner attraktivitätsmäßig betrachtet tief enttäuschend. Natürlich hätte es niemand zugegeben, aber insgeheim hatten alle auf eine romantische Begegnung gehofft. Und dann waren die Jungs klein und dünn, und die Mädchen hießen zwar manchmal Marianne, sahen aber keineswegs danach aus. Kurz, am Ende des Schuljahres hatten die meisten von uns, darunter auch Georg, Französisch als Lernfach abgewählt. Ich nicht, aus welchem Grund auch immer. Mir gefiel, wie federleicht diese Sprache klang, und ich wusste: Es gibt immer noch Paris. Die Stadt der schönen Frauen und eleganten Männer, der Mode und der Liebe und der Literatur darüber; die Heimat von Edith Piaf und Alain Delon, von Coco Chanel und Yves Saint Laurent.
    Das dachte ich jetzt wieder.
    Und dann tat ich es einfach.
    Ich ging zur Bank und beschloss, Omas „eisernes Konto“ anzubrechen, das sie mir vermacht hatte – „für schlechte Zeiten“, wie sie immer sagte. Aber vielleicht war es auch für gute Zeiten richtig. Ich trennte mich von meinem Freund, er hatte Verständnis, und kündigte meinen Job, wofür niemand Verständnis hatte.
    Und dann hatte ich plötzlich nur noch einen Koffer und alle Freiheit dieser Erde. Paris, ein Fest fürs Leben. Oder doch nicht?
    Ein französischer Bekannter sagte mir später, die Idee von dieser Stadt sei immer noch stärker als ihre Wirklichkeit. Ich musste ihre Wirklichkeit erst kennen lernen, um zu verstehen, was er meinte.

Mai – Anfänge
    1. Kapitel, in dem ich enttäuscht bin, dem Geist von Paris nachlaufe, eine erste Bekanntschaft mache, beinahe überfahren werde und lerne, was eine grammatische „Ausnahme“ ist.

    Erkenntnisse: 1. Das Baguette ist eine Frau. 2. Die Regel ist die Ausnahme.
    Aufgabe des Monats: Die Franzosen verstehen und die Franzosen dazu bringen, mich zu verstehen.

    A LS ICH AM F LUGHAFEN C HARLES DE G AULLE das erste Stück Pariser Himmel erblickte, da war es grau. Ich musste an Hemingway denken, an seinen Roman „Paris – ein Fest fürs Leben“, der mit dem Satz beginnt: „Dann war das schlechte Wetter da“, und dann rammte mir jemand seinen Koffer in die Hacken und raunzte etwas Unverständliches, etwas, das wahrscheinlich bedeuteten sollte, ich möge hier gefälligst nicht den Verkehr aufhalten. Die Menschen stürzten sich auf ihre Koffer, rannten hinaus über das schwarze Pflaster in den Regen, zum Taxi, zum Bus, zum Bahnsteig der RER. „Welcome to Paris“, hatte die Stewardess gesagt. „We wish you a pleasant stay.“ Vom Regen hatte sie nichts gesagt und auch nicht davon, dass der Aéroport Charles de Gaulle ein vollkommen unverständliches Ungetüm aus Sichtbeton sein würde, eine Art Gebäude
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