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Ein Jahr in Paris

Titel: Ein Jahr in Paris
Autoren: Silja Ukena
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gewordene Metapher der französischen Grammatik. Als internationaler Flughafenjedenfalls nur bedingt geeignet. Ich musste einen Bus finden, der mich zum Étoile bringen sollte. Dort würde Arnaud mich abholen. Arnaud war ein Freund von Freunden, und er und seine Frau Isabelle hatten sich freundlich erboten, mich in der ersten Zeit bei sich wohnen zu lassen.
    Isabelle und Arnaud waren das typische Pariser Paar, das es zu etwas gebracht hat. Beziehungsweise hatte Arnaud es zu etwas gebracht, und Isabelle ihn dazu, sie zu heiraten. Inzwischen hatten sie zwei Autos und zwei Kinder, jede Menge Streit und verbrachten die Ferien mit den Schwiegereltern in der Vendée. Arnaud war Absolvent der Eliteuniversität „Sciences Po“, mit vollem Namen „Institut d’Études Politiques de Paris“ 1 , und arbeitete in einer großen Unternehmensberatung. Isabelle machte auch irgendetwas in der Firma ihres Vaters. Was, habe ich nie genau begriffen.
    Sie erwartete uns mit einem „kleinen Imbiss“. Salat, Pasteten, etwas Brot und Käse. Wein und Wasser in Karaffen. Ich glaube, das war meine Rettung an diesem Abend – diese Fähigkeit der Franzosen, zu jeder Zeit und an jedem Ort ein gutes Essen zu servieren. Meine Angst vor dem Neuanfang, die mich schon am Flughafen in Deutschland übermannt hatte, die Enttäuschung über das schlechte Wetter, die Fremdheitin dieser mit gelben Stoffen und Stores überladenen Wohnung im 16. Arrondissement.
    Als ich später auf dem mit Bourbonen-Lilien gemusterten Schlafsofa lag, hatte ich die erste Lektion in Pariser Gesellschaftskunde hinter mir: wie man conversation macht. Arnaud, ganz junge Elite, hatte die Situation gewandt im Griff. Er brillierte und hatte zu allem etwas zu sagen. Zum Käse: „Unser traiteur bekommt ihn direkt aus der Gegend von Chartres, musst du wissen.“ Zur Kunst: „Du solltest ins Musée Picasso gehen. Picasso hat mir einen ganz neuen Blick auf die Welt eröffnet.“ Zur Lage der Nation: „Nein, ich würde nicht vom Niedergang sprechen. Die Nation befindet sich in einer Krise . Aber es gibt Hoffnung.“
    Isabelle blickte dazu auf ihren makellos gedeckten Tisch. Da meine Meinung in Arnauds Diskurs sowieso nicht gefragt war, hatte ich Zeit, sie zu betrachten. Sie war schön, Isabelle, kein Zweifel. Ihr Teint ebenso fein wie das Porzellan auf dem Tisch, allerdings ohne Landhausbemalung. Eine von diesen Frauen, die niemals enttäuschen. Immer passen die Mokassins zur Handtasche, nie verlässt ein Haar die Frisur, und dass sie zwei Kinder hat, sieht man ihr nur an, wenn sie mit ihnen unterwegs ist. Trotzdem ist da immer dieser leicht gespannte Zug um den Mund, diese Falte an der Nasenwurzel, das leise Signal. Etwas nagte in ihr. Aber sie wusste nicht, was. Meine erste Pariserin seit Madame Merseburger, unserer Französischlehrerin. Ich hatte vor, eine größere Sammlung an Modellen anzulegen. Schließlich wollte ich selbst eine werden. Doch würde das noch eine Weile warten müssen. Denn der Gedanke an Madame Merseburger brachte mich zu einem ganz anderen Problem: meinen Französischkenntnissen. Oder vielmehr deren Abwesenheit. Dabei hatte ich die Sprache doch geliebt, vom dem Moment an, als Madame – von „l’amour“ einst ins kalte Deutschland verschlagen – unsdie ersten Worte beigebracht hatte. Dass deren überaus komplizierte, vollkommen unlogische und stellenweise ins Neurotische tendierende Grammatik durchaus einen Hinweis auf den Charakter ihrer Sprecher bietet, sollte ich ja erst viel später begreifen. Freund Georg fand schon damals: „Subjonctif ist krank.“ Ich hingegen lernte begeistert jede grammatische Ausnahme (es waren hunderte), las alles von Zola (geschätzte achttausend Seiten) und beschloss, gleich nach dem Abitur meine grobe Heimat zu verlassen und nach Paris zu ziehen. Wenn Madame Merseburger in Deutschland die große Liebe gefunden hatte, warum sollte mir das nicht umgekehrt gelingen?
    Es kam wie immer im Leben: anders. Die Details spielen hier keine Rolle, jedenfalls blieb ich, wo ich war, studierte, arbeitete, hatte andere Dinge im Kopf. Und als ich es nun doch endlich geschafft hatte, saß ich da und brachte außer „Oui“ und „Merci“ und „C’est vrai!“ kein Wort heraus.
    Als ich an diesem Abend meine Füße zwischen die fest gespannten Laken schob und mich nicht traute, sie einfach unter der Matratze hervorzuziehen, weil man hier nun einmal so schlief und ich, wenn ich in diesem Land leben wollte, versuchen musste, so zu werden
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