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Ein Jahr in Paris

Titel: Ein Jahr in Paris
Autoren: Silja Ukena
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euch fährt man wohl viel Fahrrad“, sagte Isabelle, und zog die Brauen sehr hoch. Man konnte sehen, wie vor ihrem inneren Auge Horden schwitzender Deutscher des Morgens zur Arbeit strampelten. „Nein, das ist in China“, hätte ich am liebsten geantwortet, verkniff es mir aber um der Völkerfreundschaft willen. Vielleicht tat ich ihr ja auch unrecht. Sicher ist allerdings, dass Isabelle niemals ein Rad bestiegen hätte. Ich glaube, sie fand es für Frauen irgendwie unanständig. Sie machte überhaupt nie Sport. Brauchte sie aber auch nicht, sie aß nämlich auch fast nichts.
    Nur Gaetano sparte sich jeden Kommentar und gab mir stattdessen eine Adresse, wo man Fahrräder d’occasion , also gebraucht, bekam.
    „Non, Mademoiselle. On n’a pas UNE vélo. On a UNE bicyclette ou UN vélo. Mais UNE vélo on n’a pas.“ 3
    Schließlich bekam ich doch eines. Es war sehr alt und ziemlich hässlich, hatte aber tadellose Bremsen und das, so erklärte mir der Händler, sei in Paris das Zweitwichtigste beim Fahrradfahren. Dann kaufte ich noch ein Schloss. Es war riesig und kostete fast genauso viel wie das Rad. Aber das, so Monsieur, sei wirklich das Wichtigste, absolut unerlässlich. „On vole partout à Paris“ , sagte er. „Lassen Sie Ihr Rad bloß nicht irgendwo herumstehen. Sie drehen sich um und – ssssssst – sofort ist es weg. Es wird immer schlimmer mit den Dieben. Sogar vor unserem Viertel machen sie nicht mehr Halt. Wer hätte das gedacht!“
    Ich war beeindruckt, lernte aber bald, dass in Paris schon immer alles immer schlimmer wurde.

    Die neu gewonnene Freiheit zeigte mir tatsächlich ein ganz anderes Paris. Metro zu fahren bedeutet immer, an einem bestimmten Punkt des großen Ganzen im Untergrund zu verschwinden, um dann an einem ganz anderen Ort wieder aufzutauchen. Zwischendurch wechselt man mindestens einmal die Linie, durchquert kilometerlange Gänge, wird auf Rolltreppen und Laufbändern immer tiefer in die Eingeweide dieser Stadt geschickt. Kommt man dann irgendwann wiederans Tageslicht, fehlt einem jedes geographische Gefühl. Den Parisern natürlich nicht. Für sie sind die Namen der Metrostationen ganz selbstverständliche Orientierungspunkte.
    „Métro Jaurès“ 4 sagt man jemandem, der aus einem fremden Viertel anreist, oder „Du fährst bis Oberkampf“. Angeblich ist kein Ort der Stadt weiter als fünf Minuten von einer Station der Métropolitain entfernt. Und wenn nicht gerade mal wieder gestreikt wird, dann benutzen die Pariser ihre Metro auch. Jeder fährt, der morgendliche Anzugträger ebenso wie die ältere Dame auf dem Weg zu ihrem Éclair im Salon de Thé des Hôtel de Crillon; die Verkäuferin vom Bon Marché wie die Studentin der Académie des Beaux Arts. Das ist es, was Paris zur Großstadt macht, zur Metropole, wenn man so will.

    Angesichts der Massen, die praktisch zu jeder Tageszeit unter dem Asphalt unterwegs waren, so dachte ich, konnte der Verkehr eigentlich nicht mehr so schlimm sein. Das dachte ich genau so lange, bis ich zum ersten Mal versuchte, von der Rue Brunel mit dem Rad zur Sorbonne zu gelangen. Danach hielt ich die Tour de France für ein Kinderspiel. Um mich nicht zu verfahren, hatte ich geglaubt, es sei das Klügste, mich an die großen Boulevards zu halten: Champs Elysées, Place de la Concorde, Boulevard Saint-Germain, Boulevard Saint Michel. Jeder, der Paris kennt, wird sich jetzt fragen, wie man nur so naiv sein kann, und da kann ich Ihnen auch nur Recht geben. Am Ende war ich schweißgebadet, hatte „in diesem bewegten Chaos, wo der Tod von allen Seiten auf einmal imGalopp auf uns zustürmt“ 5 , ungefähr sechsmal mein Leben riskiert. Isabelle, Arnaud und Georg hätten bei meinem Anblick stille Genugtuung empfunden. Aber aufgeben – niemals. Und tatsächlich ist es ganz einfach: Man geht, fährt oder parkt eben nur nicht nach Schildern oder Vorschriften, sondern nach Gefühl und Verstand. Das einzige Problem, das sich hieraus ergibt, ist, dass mitunter die Vorstellungen von dem, was ein der Verkehrslage angemessenes Verhalten wäre, beträchtlich voneinander abweichen. Jeder hat nun mal seine eigenen Ansichten. Und natürlich hat jeder Recht, besonders zur abendlichen Rushhour. Stellen Sie sich den Pont de la Concorde vor, eine dieser breiten, von prächtigen Balustraden gesäumten Seine-Brücken, die direkt am Palais Bourbon endet, wo die Assemblée Nationale, die erste Kammer des französischen Parlaments, ihren Sitz hat. Es ist etwa 18.30 Uhr,
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