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Ein Jahr in Paris

Titel: Ein Jahr in Paris
Autoren: Silja Ukena
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für zwanzig verschiedene Menschen aus fünfzehn verschiedenen Nationen als kleinster gemeinsamer Nenner einfach zu wenig ist. Vielleichthätten wir lieber über unseren Traum sprechen sollen. Denn
den hatten wir alle. Tomer aus Tel Aviv ebenso wie Monica
aus Barcelona oder Ahmed aus Riad. Tomer war Wissenschaftler,
Monica Filmregisseurin, Ahmed der Sohn des saudischen
Botschafters, der einen Mathematikstudienplatz an einer
der Grandes Écoles bekommen und dann bemerkt hatte,
dass man mit mathematischen Formeln allein in dieser Stadt
nicht weit kommt. Insgesamt war unser Kurs ein guter Querschnitt
des Pariser Migrantentums. Des wohlhabenden, versteht
sich. Ein Pakistani, der in der Rue Levis gefälschte Yves-Saint-Laurent-Taschen verkauft, hat kein Geld für Vokabeltests.
Dennoch ist der Impuls, hierher zu kommen, am Ende
wahrscheinlich immer der gleiche. Es ist der Traum von
Paris. Der Traum davon, dass diese Stadt mehr als alle anderen
auf der Welt Freiheit und Gleichheit bedeuten könnte.
Die Freiheit, zu sich selbst zu finden. Ein poetisches Leben
zu führen. Die Liebe zu finden. Seine Meinung äußern zu
dürfen.
    Das war schon so, als Heinrich Heine nach der Julirevolution 1831 in die „freieste“ Stadt Europas zog, oder im 20. Jahrhundert von Diktaturen verfolgte Südamerikaner. Josephine Baker kam mit diesem Traum und Ernest Hemingway. Und heute ist es immer noch so. Es ist ein anderer Traum als der „If you can make it here, you can make it everywhere“-Traum von New York. „Es“ zu schaffen bedeutet in Paris nicht, zu Geld zu kommen. Die Anerkennung der Pariser kann man sich nicht kaufen. „Pfffft!“ würden sie machen, wenn man es versuchte, und einen nie wieder anschauen. Ein Volk, das noch immer stolz darauf ist, seinem verschwenderischen König den Kopf abgeschlagen zu haben, ist so leicht nicht zu haben. Auf der anderen Seite macht das die Sache natürlich unendlich viel komplizierter. Aber eins zumindest hatten wir alle, die sich hier fünf Tage die Woche wieder auf dieSchulbank setzten, schon begriffen: Die Eroberung von Paris beginnt mit der Sprache.
    Aber wie erobert man, wenn man permanent das Gefühl hat, sich mit eben dieser Sprache auf dem Niveau eines Kleinkindes zu bewegen, das soeben die Phase der Ein-Wort-Sätze überwunden hat? Als ich einmal in der alten Bibliothèque Nationale der etwa hundertjährigen Empfangsdame bei ihrer sehr detaillierten Beschreibung von Öffnungszeiten und Ausleihmodalitäten lauschte – ich verzichte hier auf eine Wiedergabe – und an einem Punkt einzuwerfen wagte, dass ich es nicht ganz und gar verstanden hätte, da nickte sie majestätisch, als habe sie nichts anderes erwartet, und sagte: „C’est pas grave“ – „Macht nichts“. Und wandte sich, ohne einen weiteren Moment an mich zu verschwenden, dem nächsten Besucher zu. Bis heute habe ich kein einziges Buch aus der BN geliehen. Stattdessen ging ich fortan in die Bibliothek des Centre Pompidou und redete mir ein, das sei der place to be .
    Ich rief Georg an, klagte ihm mein Leid und bat ihn, mir eine französische Grammatik zu schicken, auf Deutsch versteht sich. Er hatte kein Mitleid, aber eine Woche später landete ein großes Paket für mich bei der Concierge. Es enthielt die gewünschte Grammatik – und ein Kilopaket Schwarzbrot. „Damit du bei Kräften bleibst“, schrieb Georg. Ich antwortete: „Ja, Mama“, war aber trotzdem gerührt.
    Mit der deutsch-französischen Grammatik setzte ich mich, so oft es ging, in den Jardin du Luxembourg, in den sich schon Maria de Medici zurückgezogen hatte, nachdem man ihren Mann König Heinrich IV. ermordet hatte. Dort saß ich oberhalb des Bassins, beobachtete Kinder, die ihre Spielzeugsegelboote aufs Wasser setzten, und verliebte Touristen. Irgendwie hatten die Kastanienbäume es doch noch geschafft, pünktlich im Mai zu blühen, und plötzlich schien Paris ein wenig freundlicher geworden.
    Französisch für Anfänger I
    ManredetunglaublichschnellundohnePunktundKomma etwadreißigSekundenlangaufjemandeneinunddann – bricht der Satz abrupt ab, man hält jedoch mit einem Geräusch den Satz in der Luft, um anzudeuten, dass die nächste Wortkaskade bereits in Vorbereitung ist. Damit sollte man allerdings keine Millisekunde zu lange warten, denn nichts liebt der Pariser mehr, als seinem Gegenüber das Wort wegzuschnappen.
    Übrigens wird keines dieser Worte auch nur annähernd so geschrieben, wie man es ausspricht. Das Einzige, was einen da tröstet,
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