Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Titel: Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)
Autoren: Warlam Schalamow
Vom Netzwerk:
Auf Ehrenwort
    Sie spielten Karten beim Pferdetreiber Naumow . Die diensthabenden Aufseher schauten niemals in die Baracke der Pferdetreiber, sie fanden zu Recht, ihre Hauptaufgabe bestehe in der Überwachung der nach Artikel 58 Verurteilten. Den Konterrevolutionären aber wurden die Pferde in der Regel nicht anvertraut. Insgeheim allerdings murrte die praktisch denkende Leitung: sie kam um die besten, sorgfältigsten Arbeiter, doch die Vorschrift war in dieser Hinsicht eindeutig und streng. Kurz, bei den Pferdetreibern war man am sichersten, und dort trafen sich die Ganoven jede Nacht zu ihren Kartenduellen.
    In der rechten Ecke der Baracke waren auf der unteren Pritsche bunte Steppdecken ausgebreitet. Am Eckpfosten war mit Draht eine brennende »Kolymka« befestigt, ein selbstgemachtes Benzindampflämpchen: Auf den Deckel einer Konservendose wurden drei, vier offene Kupferröhrchen gelötet, das war die ganze Vorrichtung. Damit die Lampe brannte, legte man heiße Kohle auf den Deckel, das Benzin wurde warm, der Dampf stieg durch die Röhrchen auf, und das Benzingas, mit einem Streichholz angesteckt, brannte.
    Auf den Decken lag ein schmutziges Daunenkissen, und zu seinen beiden Seiten, die Beine auf Burjatenart untergeschlagen, saßen die Spieler — die klassische Pose der Kartenschlacht im Gefängnis. Auf dem Kissen lag ein nagelneues Kartenspiel. Das waren keine gewöhnlichen Karten, es war ein selbstgemachtes Gefängnisspiel, das die Meister dieses Handwerks in erstaunlicher Schnelligkeit herstellten. Zu dieser Herstellung brauchte man Papier (ein beliebiges Buch), ein Stück Brot (zum Zerkauen und Durchdrükken zur Gewinnung von Stärke — zum Zusammenkleben der Seiten), einen Kopierstift (anstelle von Druckfarbe) und ein Messer (zum Ausschneiden der Farbschablonen und der Karten selbst).
    Die heutigen Karten waren gerade aus einem Bändchen Victor Hugo geschnitten, gestern hatte jemand das Buch im Kontor liegenlassen. Das Papier war fest und dick, man brauchte die Seiten nicht zusammenzukleben, wie man es bei dünnem Papier tut. Im Lager wurden bei allen Durchsuchungen strikt die Kopierstifte konfisziert. Auch bei der Kontrolle von eingehenden Paketen wurden sie eingezogen. Das tat man nicht nur zur Unterbindung der möglichen Herstellung von Dokumenten und Stempeln (auch diese Kunst beherrschten viele), sondern auch zur Vernichtung jeglicher Konkurrenz mit dem staatlichen Kartenmonopol. Aus den Kopierstiften wurde Tinte gemacht, und mit der Tinte trug man durch die vorgeschnittene Papierschablone die Muster auf die Karte auf — Damen, Buben, Zehner aller Farben... Die Spielkartenfarben unterschieden sich nicht nach rot und schwarz, und der Spieler braucht diesen Unterschied auch nicht. Beim Pik-Buben zum Beispiel saß der Spieß an zwei entgegengesetzten Ecken der Karte. Verteilung und Form der Muster blieben über Jahrhunderte gleich — die eigenhändige Herstellung von Spielkarten gehört zur »Ritter«erziehung des jungen Ganoven.
    Das nagelneue Kartenspiel lag auf dem Kissen, und einer der Spieler schlug seine schmutzige Hand mit den feinen weißen, unabgearbeiteten Fingern darauf. Der Nagel des kleinen Fingers war von übernatürlicher Länge — ein Ganoven-Schick, genauso wie die »Stifte«, Gold-, d.h. Bronzekronen, die auf völlig gesunde Zähne gesetzt werden. Es gab sogar Meister, selbsternannte Zahnprothesenmacher, die mit der Herstellung solcher ständig gefragten Kronen nicht wenig dazuverdienten. Was die Nägel betrifft, so hätte sich ihr farbiges Lackieren zweifellos in der Verbrecherwelt eingebürgert, wenn man im Gefängnis Lack hätte herbeischaffen können. Der gepflegte gelbe Nagel glänzte wie ein Edelstein. Mit der linken Hand fuhr sich der Herr des Nagels durch das verklebte und schmutzige helle Haar. Er hatte einen makellosen »Fassonschnitt«. Die niedrige, vollkommen faltenlose Stirn, die gelben Büschel der Augenbrauen, das aufgeworfene Mündchen — all das verlieh seiner Physiognomie eine für das Äußere eines Diebes wichtige Eigenschaft: Unauffälligkeit. Das Gesicht war so, daß man es sich nicht merken konnte. Man schaute es an und vergaß es, verlor alle Züge, und beim nächsten Mal erkannte man es nicht wieder. Das war Sewotschka, eine berühmte Koryphäe für Terz, Stoß und Bura, die drei klassischen Kartenspiele, ein begeisterter Exeget Tausender Regeln des Kartenspiels, deren strenge Beachtung in einer echten Schlacht zwingend ist. Von Sewotschka hieß es, daß
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher