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Wir Wunderkinder

Titel: Wir Wunderkinder
Autoren: Hartung Hugo
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    ERSTES BUCH
    Abendgrau – –
    Ich kann mich noch deutlich an den Augenblick erinnern, in dem Bruno zu mir sagte, wir müßten von jetzt an ein Tagebuch führen. An das Jahr erinnere ich mich nicht mehr so genau, aber es ist in einem heißen Sommer vor dem Ersten Weltkrieg gewesen, denn Ilse hatte eine dünne, ärmellose Bluse an, so durchsichtig, wie es im ›Großherzogin-Eleonore-Töchterstift‹ eigentlich nicht erlaubt war. Bruno meinte, alle großen Männer hätten Tagebücher geführt, die Kriegshelden, die Afrikaforscher und Casanova.
    »Wer ist denn Casanova?« fragte Ilse.
    »Das sag' ich dir auf dem Rückweg«, antwortete Bruno.
    Ich weiß nicht, wie es kam, daß ich auf dem Rückweg nicht mehr dabeigewesen bin. Es war inzwischen Nacht geworden. Ich hatte Tante Remmy besucht, die in einem alten Kavaliershäuschen neben dem Schloß wohnte, und war ganz pünktlich zu dem vereinbarten Treffpunkt gekommen. Trotzdem fand ich Ilse und den Klassenkameraden nicht mehr und mußte den langen Heimweg durch den Park allein machen.
    Unter dem Papierwust von Brunos Nachlaß habe ich ein Tagebuch aus dieser Zeit nicht gefunden. Es kann sein, daß er dennoch gleichzeitig mit mir zu schreiben begonnen hat. Aber mit fünfzehn, sechzehn findet man solche Aufzeichnungen oft albern und hört damit auf oder vernichtet sie – ich selber habe schon ziemlich früh die Lust daran verloren. Manchmal fallen sie auch den Eltern in die Hände. Es würde mich heute noch interessieren, was eigentlich damals zwischen Ilse und Bruno geschah. Sie war die Tochter eines Amtsrichters und meine erste Liebe – was man mit dreizehn Jahren so lieben heißt. Wir nannten es ›eine Flamme haben‹, und die Bezeugungen einer so jungen Neigung beschränkten sich auf Blicke und Händedrücke und das Überreichen stanniolumwickelter Süßigkeiten. Bruno ›spannte mir Ilse aus‹, wie es in unserer Pennälerterminologie hieß, und ich bin überzeugt, er hat auf jenem Heimweg durch den Park damit angefangen. Es war eine laue Mondnacht.
    Ich habe zwar Geschichte nur im Nebenfach studiert, bin aber dadurch historischen Quellen gegenüber sehr gewissenhaft geworden. In den Zeitschriften-Redaktionen nehmen sie es damit wahrscheinlich nicht so genau; denn der Redakteur der Illustrierten schrieb mir ausdrücklich, ich möge das mir übersandte Material des Bruno Tiches möglichst frei verwenden. In manchen Fällen werde ich sogar dazu gezwungen sein, denn wenn auch mein Klassenkamerad eine ungewöhnliche Karriere gemacht hat, so sind doch manche Dinge von ihm recht primitiv dargestellt worden, und einige auch ziemlich indezent. Da werden Retuschen notwendig sein. Auch liegt es mir gar nicht, »die facts zu dramatisieren«, wie das die Illustriertenmänner von mir wollen.
    Brunos Schrift ist übrigens leicht lesbar, aber nicht sympathisch. Eine ausdruckslose Schul-Normalschrift, die der Verfasser, besonders in späteren Jahren, ins Markige umgequält hat. Das fängt sogar schon ziemlich früh an. Wahrscheinlich ist dem Jüngling einmal ein graphologisches Lehrbuch in die Hände gefallen, in dem er die Schrift der Willensmenschen von Cäsar bis Napoleon studiert hat. Bruno dachte sich: Mache ich ihre Schrift nach, so werde ich wie sie. Er hat mit diesem Rezept einigen Erfolg gehabt.
    Daß es nicht leicht sein wird, aus den Stößen von Tagebüchern das Richtige auszuwählen, sehe ich schon an den allerersten erhaltenen Aufzeichnungen meines Klassenkameraden Tiches. Sie betreffen die großen Manöver von 1912, an die ich mich auch noch recht gut erinnere. An einem mildblauen, goldfädigen Herbsttag stand ich mit Vater an der staubigen Heerstraße vor der Stadt. Die Luft war durchsichtig und hellhörig, und manchmal fielen uns reife Zwetschen auf die Köpfe. Man hörte aus einer Feldscheune die Dreschflegel und dann – in einem anderen Rhythmus – Musik. Danach stieg Staub auf. Ich hatte gegen den Durst eine bittere blaue Schlehe im Mund. Auf einmal schaukelte der Boden sonderbar.
    »Kavallerie«, sagte Vater zu meiner Linken, und Onkel Bense, der rechts von mir stand (väterlicherseits! Tante Remmy ist aus Mutters Familie), mummelte unter seinem Kautabak hervor: »Die Fünferhusaren!«
    Das war ein Wirbel von wippendem Rot – »Attila«, hörte ich Onkel Bense sagen –, schweißige Pferdeleiber glänzten, und wenn man die Augen schloß, machten die vielen Hufe ein seltsam erregendes Geräusch. Die Schlehe in meinem Munde schmeckte plötzlich
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