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Wir Wunderkinder

Titel: Wir Wunderkinder
Autoren: Hartung Hugo
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entscheidenden Stationen in Brunos Leben, und durch sie ist auch sein Name zum erstenmal in die Zeitung gekommen.

Umlaufende Winde
    Vom 17. Oktober 1913 gibt es bei Bruno überhaupt keine Eintragung. Dennoch erinnere ich mich an diesen Tag ebenso gut wie an den nächsten. Wir verbrachten ihn auf dem Hof vom städtischen Gaswerk.
    Das hundertjährige Gedenken an die Völkerschlacht und die Einweihung des neuen Leipziger Denkmals sollten bei uns dadurch gefeiert werden, daß sich ein Luftballon, gefüllt mit städtischem Koch- und Leuchtgas und bemannt mit vier tapferen Herren – darunter dem als Sportsfreund bekannten Fabrikanten Kienzel – in den vaterländischen Himmel erheben würde. Hermann Kienzel verfügte über weitreichende Beziehungen, da er schon einmal mit dem Landesherrn zusammen einen Bock geschossen hatte. Es war sogar bei beiden der gleiche Bock gewesen, und da Kienzel ihn dem Großherzog als Jagdbeute überlassen hatte, empfing er für diese loyale Handlung sowohl einen Hausorden wie die unverbrüchliche Huld des Souveräns, die sich eben jetzt dadurch kundtat, daß unserer kleinen Stadt bevorzugt einer der nicht allzu zahlreichen deutschen Luftballone zu Füllung und Aufstieg überlassen wurde.
    Die mattsilbern schimmernde Haut des Freiballons ›Altenburg‹ traf am Spätnachmittag des 16. Oktober mit der Bahn ein, nachdem schon am Vormittag der Ballonführer, Herr Rockezoll, angereist gekommen war. Dieser von uns Knaben sehr bestaunte Mann trug einen blauen Anzug, eine Kapitänsmütze und einen kurzen, spitzen Prinz-Heinrichs-Bart. Er wohnte im ›Goldenen Löwen‹, und die neugierig aus den Fenstern lugenden Nachbarn sahen ihn manchmal aus der Hoteltür treten, den Finger anfeuchten und ernst in die Luft heben. Der ›Landbote‹ schrieb am nächsten Tag, Herr Rockezoll habe ›die aeronautischen Verhältnisse geprüft‹, weil derzeit umlaufende Winde sein Unternehmen gefährdeten.
    Bruno Tiches und mir kam zustatten, daß wir mit dem Sohn des Städtischen Gaswerksinspektors – abkürzend ›Gasinspektor‹ genannt – in die gleiche Klasse gingen. Dieser Junge, mit dem Vornamen Andreas, war ein blasses, schmales und ziemlich verträumtes Bübchen. Unser robuster Mathematiklehrer Röps sagte einmal zu ihm: »Hast wohl mal wieder zu Hause zuviel Gas geschluckt?« – und wirklich hatte dieser Andreas oft etwas Schwebendes.
    Nun lag also der Ballon ›Altenburg‹ wie eine ausgeleerte Wursthaut auf der großen Wiese neben dem Gaswerk, von drei städtischen Feuerwehrmännern in Uniform bewacht und in geziemendem Abstand von vielen Kindern bestaunt. Bruno und ich gingen mit geschulterten Schaufeln stolz an ihnen vorüber, da uns Andreas eingeladen hatte, mit ihm zusammen die kleinen Sandsäcke zu füllen, die außen am Ballonkorb als Ballast hängen und von denen immer einige geleert werden müssen, wenn der Ballon Auftrieb gewinnen soll.
    Der Sand, der morgen seine Himmelfahrt machen würde, war ganz gewöhnlicher Sand – ein ziemlich kümmerlicher Haufen auf dem großen Gaswerkshof –, aber die grauen Säckchen, die daneben geschichtet lagen, nötigten uns ob ihrer vergangenen und künftigen Abenteuer einigen Respekt ab. Und vollends bewunderten wir den kleinen, etwas beleibten Herrn Gasinspektor, der, wie uns Andreas versicherte, ›heute für sehr gutes Gas sorgen mußte‹.
    Wir begannen zu schaufeln. Ein sanfter Wind wehte von Süden.
    »Das ist schlecht«, sagte Andreas. »Dann schiebt es den Ballon morgen nach Norden. Und wenn er nicht über das Meer abgetrieben werden soll, muß Herr Rockezoll an der Nordseeküste die Reißleine ziehen.«
    »Warum denn?« fragte Bruno Tiches.
    »Weil sie sonst in die Nordsee stürzen könnten.«
    »Warum denn nicht?« fragte der beharrliche Bruno weiter, und nach einer Weile fügte er hinzu: »Mitfliegen müßte man eben dürfen …«
    Wir schaufelten weiter. Oben war der Sand ganz trocken. Später wurde er feucht und schwer.
    »Wenn man so denkt«, sagte der Gasinspektorssohn, »vielleicht fallen ein paar von den Sandkörnchen auf ein fremdes Land.«
    »Es müßte eben alles deutsch sein«, sagte Bruno großspurig.
    »Ich finde fremde Länder schön.« – Andreas bekam wieder mal seinen schwebenden, ›gasgefüllten‹ Ausdruck – »in den vorigen Ferien war ich mit Vater in Bayern.«
    Daraufhin schwiegen wir eine Weile; denn so weit war noch keiner von uns gereist. Den sonst oft schüchternen Andreas ermutigte das zu weiteren
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