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Liebe und Völkermord

Liebe und Völkermord

Titel: Liebe und Völkermord
Autoren: Daniel Imran
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    Als am Abend um zwei Minuten vor 18 Uhr das kürzlich eingetroffene Heer des Jüsbaschi sie angriff, übernahm Isa das Kommando und stellte sich dem Heer der Kurden und Türken mit einem Gefolge von hundert mit alten und teil verrosteten und kaum tauglichen Gewehren bewaffneten Männern entgegen.
    Sie standen sich mit einem Abstand von nur 50 Metern gegenüber. Das Tal zwischen den beiden hoch ragenden Bergen bot nur eine Fläche von 100 Metern. Die Muslime griffen in geschlossenen Reihen von zehn Mann an. Als die Aramäer unaufhörlich auf sie feuerten und in ihren vorderen Reihen ein Mann nach dem anderen tot zu Boden fiel, lösten sich ihre Reihen auf. Der furchtlose Isa lud sein Gewehr dreimal in nur einer Minute nach. In seiner Jugend hatte er seinen Vater jeden Tag bei der Wildschwein-Jagd begleitet. Nun war er wieder in seiner alten Form und ein ausgezeichneter Schütze. Aus hundert Metern Entfernung traf er mühelos eine Natter. Seit zehn Jahren hatte er nun kein Gewehr mehr in die Hand genommen. Doch so geübt war er und so stark hatte sich das Handwerk des Schützen in sein Gehirn eingebrannt. Nach nur fünf Schüssen auf die Feinde und zwei Minuten war er zu seinen besten Tagen zurückgelangt. Zehn bewaffnete kurdische Schützen hatte er schon tödlich getroffen. Dann schrie er laut: „Die Heiligen und die Erzengel sind mit uns! Kommt mit mir und lasst uns die Teufelsanbeter aus unserem Land verjagen!“
    Seine Neffen Danho und Hanna und all die anderen Männer neben und hinter ihm jubelten mit und rannten ebenfalls los in Richtung der Muslime. Die Kurden und Türken hielten inne, als sie die herannahenden wilden Krieger sahen. Auf ihrer Seite waren schon 20 Männer gefallen. Sie hatten sich erhofft, die Aramäer im Sturm zu besiegen, und das ohne Verluste. Sie hielten es für sinnvoller, sich zurückzuziehen und die Aramäer später noch einmal anzugreifen. Als Isa und seine Genossen sahen, wie sie sich zurückzogen, blieben sie stehen und schossen auf sie, während sie sich im Rückschritt in ihr Dorf zurückzogen.
    Indes war das Lager der Muslime gespalten. Der Jüsbaschi konnte die Kurden nicht mehr unter Kontrolle halten. Agha Muhammad Ali weigerte sich, jeden Befehl des Türken auszuführen und seine Männer in den sicheren Tod zu schicken. Ursache für seinen plötzlichen Unwillen war der Streit mit Generalmajor Heinz Sturm gewesen. Der Preuße hielt sich zurück und beriet die Muslime nicht bei der Vorbereitung ihres Angriffs auf Iwardo. Er wartete auf das Eintreffen seines Freundes Ali Pascha. Das war die erste Schlacht gewesen, bevor das Heer des Ali Pascha eingetroffen war.
    In der Nacht festigten Isa und seine Kafroje die Schutzwälle. Zwischen den aufgetürmten Steinen ließen sie kleine Freiräume, Löcher, in die die Läufe ihrer Gewehre hindurchpassten.
    In der Nacht löste Isa, zusammen mit seinem Jugendfreund Skandar, die Wache seiner Neffen Danho und Hanna ab. Sie blieben vor der Mitte der Mauer stehen, der wichtigsten und schwächsten Stelle. Dort harrten sie aus. Auf dem Boden saßen sie mit dem Rücken an die Wand gelehnt, und standen abwechselnd auf und hielten, durch die Schießlöcher guckend, nach feindlichen Soldaten Ausschau. Bis zum Morgengrauen und bis zum Mittag blieben sie wach.
    Bis nach Mitternacht hörten sie das Lachen und Gegröle der Muslime. Bisweilen traten einzelne Gruppen von ihnen näher heran und schrien den Aramäern die übelsten Beschimpfungen zu. Skandar wurde wütend, Isa beruhigte ihn. Sein Gewehr hatte er rechts neben sich gelegt, aufrecht, mit dem Lauf an die Wand gelehnt. „Sie wollen uns nur provozieren und unsere Kampfmoral schwächen. Das zeigt doch nur, dass sie Angst haben.“
    Skandar rührte sich nicht von seinem Posten. Er dachte über Isas Worte nach. Er stand die ganze Zeit über aufrecht, sein Rücken war gekrümmt. Seine Nasenspitze war an den Stein gedrückt. Er nickte. „Du hast recht. Sie haben Angst. Sie haben nicht damit gerechnet, dass wir uns erfolgreich wehren können.“
    Isa schwieg darauf eine Weile lang. Dann vernahm Skandar ein unterdrücktes Weinen. Er schaute nicht zu seinem Freund herab. „Woran denkst du, Isa?“
    Isa hob seinen Kopf, wischte mit seiner rechten Hand die Tränen von den Augen weg und atmete erst tief durch. „Ich dachte an all unsere Schwestern und Brüder, die von den Teufelsanbetern abgeschlachtet wurden. Daniel hat mir erzählt, sie haben die Dörfer um Mardin und um Midjat herum vernichtet. Kein
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