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Europa nach dem Fall

Titel: Europa nach dem Fall
Autoren: Walter Laqueur
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Vorwort
    Ein Buch über Europa, geschrieben inmitten einer tiefen Krise, kann nicht mehr sein als ein Zwischenbericht. Doch das trifft wohl auf die meisten Publikationen der Geschichtsschreibung zu, es sei denn, sie befassen sich mit Zivilisationen und Gesellschaften, die längst nicht mehr existieren. Wäre es dann nicht klüger, seine Gedanken über die gegenwärtige Situation auf das Internet und das Fernsehen zu beschränken, auf Medien, die unmittelbare Mitteilung ermöglichen? Gewiss, vorsichtiger wäre es, nur besteht wenig Hoffnung, dass die Krise in der nahen Zukunft vorbei sein und ein Gleichgewicht wiederhergestellt sein wird. Die Krise wird aller Wahrscheinlichkeit nach viele Jahre andauern, denn es handelt sich dabei nicht so sehr um wirtschaftliche Turbulenzen, um steigende und fallende Aktienkurse, um steigende oder fallende Exportstatistiken, auch nicht um die Zahl der Beschäftigten und Arbeitslosen, so wichtig das alles auch sein mag.
    Während diese Zeilen geschrieben werden, findet in Brüssel ein Treffen der europäischen Ministerpräsidenten und Finanzminister statt, eine Konferenz von vielen, die da waren und noch sein werden. Diesmal herrscht ein vorsichtiger Optimismus: Vielleicht ist das Schlimmste bereits vorbei, vielleicht ist es gar nicht notwendig, die einschneidenden Änderungen vorzunehmen, die radikalen Reformen und Kürzungen, die so viel Unzufriedenheit hervorgerufen haben? Möglicherweise ist dieser Optimismus gerechtfertigt, wahrscheinlich noch nicht – wer kann es sagen? Doch diese wechselnden Stimmungen berühren nicht die eigentlichen Kernpunkte.
    Es geht im Grunde um die politische Zukunft Europas. Wird die gegenwärtige Krise einen stärkeren Zusammenschluss der Länder des alten Kontinents bewirken oder wird ein schwaches und überaltertes Europa daran zerbrechen? Wird es nicht nur eine gemeinsame Wirtschaftspolitik geben, sondern auch eine gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik? Die Völker Europas haben bisher wenig Begeisterung gezeigt, was die Aufgabe ihrer angestammten Souveränität betrifft; die Europäische Union war im Wesentlichen eine Angelegenheit der Eliten. Eine europäische Nationalhymne gibt es zwar inzwischen, aber wann hat man sie zum letzten Mal gehört? Europa, Europa über alles klingt merkwürdig (auch Einigkeit und Recht und Freiheit für das europäische Vaterland ) genauso wie Allons enfants de l’Europe oder Europe rule the waves. Wird sich das in der nahen Zukunft ändern? Wo werden die Grenzen Europas sein, werden Russland und die Türkei dazugehören? Oder wird sich Europa in Richtung einer Zollunion bewegen wie Lateinamerika heute – oder Deutschland vor 1871? Auf diese und andere Fragen wird es auch in den nächsten fünf oder zehn Jahren wohl keine endgültige Antwort geben.
    Deutschland ist bisher von der wirtschaftlichen Krise weniger betroffen worden als die meisten seiner Nachbarn, hauptsächlich deswegen, weil die Krise Deutschland bereits früher, um 2005, heimsuchte. Doch die deutsche Wirtschaft ist eng mit den Nachbarländern verbunden. Die Lage in der Bundesrepublik wurde Gegenstand der Bewunderung und des Neides und auch der Erwartungen: Warum tut Deutschland nicht mehr, um den am stärksten betroffenen Ländern zu helfen? Die Krise hatte zur Folge, dass die führende Stellung der Bundesrepublik in Europa viel klarer wurde, als es früher der Fall gewesen war. Doch mit dem wachsenden Prestige kam die Verantwortung.
    Die Gründe, die für und gegen eine solche Hilfe sprechen, sind hinreichend bekannt und brauchen nicht weiter erörtert zu werden. Es lag eine gewisse Ironie darin, dass gerade die Bundesrepublik einen Sparkurs verfolgte und dies auch von anderen forderte, während das eher konservative Amerika eine Wachstumspolitik betrieb und die Warnungen vor Inflation in den Wind schlug. »Remember Brüning« , hieß es in Washington und manchen europäischen Hauptstädten, in Anspielung auf den Kanzler der frühen 1930-Jahre, dessen Sparpolitik unheilvolle Folgen hatte und der, wenn er denn je von Keynes, dem führenden englischen Nationalökonomen dieser Zeit, gehört hatte, dessen Ratschläge betreffend einer Ankurbelung der Wirtschaft für verderblich hielt.
    Doch wie erwähnt, die tiefere Krise ist politischer und psychologischer Natur. Man hatte eine gemeinsame Währung geschaffen, aber ohne Kontrollinstrumente und eine gemeinsame Finanzpolitik, und das konnte nicht gut enden. Mit anderen Worten, um weiteren Fortschritt
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