Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sterbensangst (German Edition)

Sterbensangst (German Edition)

Titel: Sterbensangst (German Edition)
Autoren: David Mark
Vom Netzwerk:
Prolog
    Der alte Mann blickt auf, und einen Moment lang kommt es ihm so vor, als würde er durch das falsche Ende eines Fernglases schauen. Die Reporterin ist vierzig Jahre weit entfernt.
    »Mr Stein?«
    Eine warme, sanfte Hand auf seinem knochigen Knie.
    »Möchten Sie Ihre Erinnerungen an diesen Moment mit uns teilen?«
    Es kostet seine ganze Willenskraft, sich von der Vergangenheit loszureißen und wieder in die Gegenwart einzutauchen.
    Er blinzelt.
    Zwingt sich mit der Furcht eines alten Mannes vor dem Vergessen, sich zusammenzureißen.
    Du bist immer noch da, sagt er sich. Immer noch am Leben.
    »Mr Stein? Fred?«
    Du bist am Leben, sagt er sich abermals. Auf dem riesigen Containerfrachter Carla .
    Siebzig Meilen vor der isländischen Küste. Ein letztes Interview in der Kombüse, mit ihrem Gestank nach Frittiertem und verbranntem Kaffee, nach Diesel und Meeresgischt; das tiefe, dumpfe Hintergrundrauschen von ungewaschenen Männern und nasser Wolle.
    So viele Erinnerungen …
    Er blinzelt wieder. Das wird zur Gewohnheit. Warum weine ich nicht?, denkt er. Sie hat Tränen verdient, diese ganze Sache.
    Er sieht sich die Frau genauer an. Vornübergebeugt auf einem harten Stuhl wie ein Jockey in vollem Ritt. Hält ihm das Mikrophon vor die Nase wie einem kleinen Kind seinen Lutscher.
    Er schließt die Augen, und dann überrollt es ihn wie eine Woge.
    Einen Augenblick lang ist er wieder ein junger Mann am Beginn einer Achtzehnstundenschicht, der sich seinen Pullover überstreift, steif von Fischinnereien und Schleim. Er wärmt sich die Hände an einem Becher Tee und schaufelt sich zwischendrin Porridge in den Mund, um seinen Hunger zu stillen. Er hat Schmerzen. Versucht sich einzureden, dass diese Hände seine eigenen sind. Er hört den Skipper. Die Dringlichkeit in seiner Stimme. Er schwingt den Enterhaken. Die Axt. Hackt auf das Eis ein. Haut Eisbrocken los, die einem den Schädel einschlagen können, wenn man nicht schnell genug zur Seite springt. Er spürt, wie das Schiff zu sinken beginnt …
    »Das Geräusch des Windes«, sagt er und fühlt, wie seine Finger in der Manteltasche das Kreuz schlagen und vor der glatten, seidigen Oberfläche eines Päckchens Benson & Hedges die Knie beugen. Es ist eine alte Gewohnheit, Überbleibsel einer katholischen Erziehung.
    »Können Sie es für uns beschreiben?«
    »Es war wie in einem Haus auf dem flachen Moor«, sagt er und schließt ein Auge. »Der Wind kam von allen Seiten zugleich. Heulend. Brüllend. Kreischend. Als wollte er uns nie wieder aus seinen Fängen lassen. Ich vibrierte im Wind. Wie eine Stimmgabel. Ich spürte, wie das Deck unter mir bebte, und ich stand stocksteif da, wie festgefroren auf diesem verdammten Fleck.«
    Sie nickt ihrem Kameramann zu und bedeutet ihm, weiterzudrehen. Er ist sein Geld wert, dieser nette alte Knabe mit dem Hemd aus dem Wohlfahrtsladen und einer Krawatte der Kingston Rovers aus Hull. Er hält sich ziemlich gut, wenn man bedenkt. Verkraftet die Kälte besser als sie. Und er hat Seemannsbeine, das muss man ihm lassen. Und eine bessere Konstitution noch dazu. Sie hat nur mit Mühe ihr Essen unten behalten können, seit sie in diese Schlechtwetterfront geraten sind, und es ist nicht gerade hilfreich, dass der einzige Raum auf diesem angeblichen Superfrachter, der groß genug ist für sie, den Kameramann und das Mikrophon, die schmierige, mit Essensresten verkleisterte Küche ist. Kombüse, berichtigt sie sich mit journalistischer Präzision.
    »Sprechen Sie weiter, Mr Stein.«
    »Um ehrlich zu sein, meine Liebe, es waren die Stiefel«, sagt der alte Mann und wendet den Blick ab. »Die Stiefel meiner Kameraden. Ich konnte sie auf dem Deck hören. Sie quietschten. Dieses Quietschen von Gummi auf dem Holz. Ich hatte es nie zuvor richtig wahrgenommen. Acht Jahre auf Fischtrawlern, und ich hatte nie das Geräusch der Schritte gehört. Nicht über dem Lärm der Maschinen und der Generatoren. Aber in jener Nacht schon. Der Wind legte sich gerade lange genug, dass ich sie laufen hörte. Nett, nicht wahr? Hinterhältiger Bastard, dieser Wind. Es war, als wollte er vor dem letzten fürchterlichen Ansturm noch einmal Atem holen. Und ich stand da und dachte: ›Ich kann ihre Stiefel hören.‹ Und vierzig Jahre später ist es genau das, woran ich mich erinnere. Ihre verdammten Stiefel. Kann das Geräusch seither nicht mehr ertragen. Ich gehe nicht mehr vor die Tür, wenn es regnet. Ich halte es nicht aus, einen Stiefel auf einer nassen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher