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Europa nach dem Fall

Titel: Europa nach dem Fall
Autoren: Walter Laqueur
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gebessert zu haben. Zahlreiche Versuche sind seitdem unternommen worden, das Gefühl eines gemeinsamen kulturellen Erbes zu stärken, unter anderem mit einer Europahymne und einer europäischen Flagge, aber sie haben bislang nicht viel ausgerichtet. Einige gemeinsame kulturelle Veranstaltungen sind ein Stück erfolgreicher gewesen, darunter der Eurovision Song Contest (der aber auch beträchtlichen Unwillen aufgrund politischer Machenschaften erregte) oder das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker, obwohl sich das auch viele Millionen Chinesen und Japaner anhören.
    Lektionen aus der Geschichte verblassen allmählich. Allerdings hatte sich die Lektion, dass es in Europa keine Kriege mehr geben sollte, eingeprägt, denn der dafür gezahlte Preis war zu hoch gewesen, und Europa war nun jedenfalls zu schwach, um Krieg zu führen. Es war in dieser postheroischen Zeit endlich erkannt worden, dass Europa, vor allem ein schrumpfendes Europa, all den Lebensraum hatte, den es brauchte.
    Dies aber waren negative Lektionen, die Europa lehrten, was es nicht tun sollte. Das positive Gefühl europäischer Solidarität und gemeinsamer Werte hatte nach unsicheren Anfängen keine großen Fortschritte gemacht – wenn es überhaupt welche zu vermelden gab. Es gab nicht einmal eine Übereinstimmung über die Grenzen Europas. War das Vereinigte Königreich den Vereinigten Staaten oder Bulgarien oder der Türkei näher? Es war auch nicht realistisch, so einen Fortschritt zu erwarten – wie konnte der mithalten mit Nationalgefühlen, die sich im Laufe vieler Jahrhunderte entwickelt hatten?
    Wenn von gemeinsamen Werten wenig zu erwarten war, wie stand es mit gemeinsamen Interessen und gemeinsamen Bedrohungen als Kitt? Diese bestanden gewiss, und zwar nicht nur auf wirtschaftlichem Gebiet, aber eine solche Union glich einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung; die Menschen mochten Solidarität mit ihren Landsleuten empfinden und bereit sein, Opfer für ihr Heimatland zu bringen, warum aber für eine Gemeinschaft mit ökonomischen Interessen? Es gab gemeinsame politische Interessen, aber auch Interessenkonflikte – unterschiedliche Auffassungen bestanden zwischen Ländern und innerhalb von Ländern.
    Wann wurde erstmals erkannt, dass in der Europäischen Union nicht alles im Lot war? Es hatte in den 1970er-Jahren eine europäische Krise gegeben mit dem Gefühl, dass Europa nach einem verheißungsvollen Beginn der Dampf ausging. Anderswo hatte es aber auch größere Krisen gegeben – in den 1990er-Jahren in Russland und auch in Asien (1997–98), in Lateinamerika (1999–2002) und sogar in den Vereinigten Staaten, doch die betroffenen Länder hatten sich alle erholt. Zu den globalen Aussichten in den 1980er-Jahren gab es eine breite Palette von Meinungen. Die Kassandras (damals nicht sehr viele) sahen überwiegend Verderben und Ersterben, und es ist natürlich wahr, dass Katastrophen früher oder später irgendwo passieren. Doch die Mehrheitsansicht, wie sie zu der Zeit in den führenden Arbeiten von Politikwissenschaftlern zu Aufstieg und Fall von Großmächten zum Ausdruck gebracht wurde, lautete, dass Amerika sich übernommen hatte und fallen müsste; das stagnierende Russland war auch nicht in guter Verfassung, obwohl kaum jemand vorhersah, wie nahe der Zusammenbruch war. China und Indien blieben mehr oder weniger unbeachtet, was verständlich ist, weil der große Sprung nach vorn gerade erst begann.
    Milden Optimismus verbreiteten die Propheten hinsichtlich Japans und Europas. Diese Mächte hatten sich nicht übernommen, sondern machten beständige, stufenweise Fortschritte – Europa nahm neue Mitglieder auf und steuerte auf eine gemeinsame Währung zu. Einige Enthusiasten gingen noch weiter und beschrieben den europäischen Weg als die beste Hoffnung in einer unsicheren Welt, da der europäische Traum leise den amerikanischen Traum ersetzte, wobei der Begriff »leise« in diesem Zusammenhang sehr oft fiel.
    Das waren falsche Annahmen und Vorhersagen, aber sie erschienen damals nicht zu weit hergeholt. Die Sowjetunion verschwand und die Vereinigten Staaten waren eine Zeit lang die einzige Supermacht, sehr zum Verdruss einiger, die weitere Verausgabungen und infolgedessen einen noch stärkeren Niedergang vorhersagten. Andere vertraten eine gelassenere Ansicht. Europa war dabei, sich weiter auszudehnen. Seine Bevölkerung war nun größer als die der Vereinigten Staaten, und auch sein Bruttosozialprodukt war höher. Doch dessen
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