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Europa nach dem Fall

Titel: Europa nach dem Fall
Autoren: Walter Laqueur
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Wachstum verlangsamte sich sehr, und einzelne Länder standen vor größeren Problemen. 2005 veröffentlichte die CIA einen Bericht, in dem sie vorhersagte, dass die EU (und die NATO) bis 2020 verschwinden würden, wenn sie nicht weitreichende Reformen durchführten.
    Die Begründungen dafür waren interessant, aber nicht ganz überzeugend. Der europäische Wohlfahrtsstaat sei zu teuer geworden, praktisch unerschwinglich, und mache es Europa unmöglich, auf den Weltmärkten zu konkurrieren. Das stimmte so ziemlich – die Menschen lebten länger und medizinische Behandlung wurde immer teurer. Doch die amerikanischen Autoren dieser Berichte scheinen übersehen zu haben, dass dies auch für die Vereinigten Staaten galt, die keinen Wohlfahrtsstaat hatten (oder bloß einen sehr eingeschränkten), aber pro Kopf mehr für die Gesundheit ausgaben als die Europäer. In der Zwischenzeit hatten einige europäische Länder, insbesondere Schweden, aber auch Deutschland, bewiesen, dass ein Missbrauch des Wohlfahrtsstaats behoben und sehr viel Geld gespart werden konnte. Einige dieser Einschnitte waren schmerzhaft, aber viele Grundzüge des Wohlfahrtsstaats blieben erhalten.
    In der Prognose von 2005 wurde noch ein anderer Grund für den kommenden Zusammenbruch der EU angegeben – die Tatsache, dass das schneckenhafte Wachstum in Deutschland die europäische Wirtschaftsleistung negativ beeinflusste, da Deutschland die größte Wirtschaftsmacht war. So standen die Aussichten 2005, doch fünf Jahre später nahm sich die Situation in Europa wieder ganz anders aus, mit Deutschland als unbestrittener Führungsmacht, nach deren Pfeife alle tanzen mussten. Das zeigte wiederum die Fallstricke und Fußangeln von Prognosen. Einige Faktoren waren von vornherein unvorhersehbar, andere waren lediglich psychologischer Natur oder hatten damit zu tun, wie wirkungsvoll eine Regierung eine Krise bewältigte. Es war klar, dass zum Beispiel dumme und unkluge Aktivitäten von Banken früher oder später ihren Preis fordern würden. Aber es kam dennoch darauf an, wie die Behörden und die Öffentlichkeit mit so einer Situation umgingen. Ein Kollaps ließe sich vermeiden, sofern die Dummheit und der Schaden nicht monumental wären. Es könnte aber auch zu einer Panik kommen, einem Massenansturm auf die Banken mit gleichfalls dummen Gegenmaßnahmen. In diesem Fall könnten die Folgen weitreichend und verheerend sein.
    Dass Amerika sich aufgrund einer zu dünnen Finanzdecke global verausgabte, mag tatsächlich großen Schaden angerichtet haben, und auch der europäische Wohlfahrtsstaat mag eine zu schwere Last geworden sein. Aber das waren nicht die Hauptgründe, welche die große Krise von 2008 verursacht haben. Hauptverantwortlich waren die von Amerika und Europa angehäuften enormen Schulden und die größtenteils fehlende Finanzaufsicht, die zu der großen Instabilität auf den Märkten führten, für die wiederum Banken, Regierungen und einzelne Schuldner verantwortlich waren.
    Die Ursachen waren jedoch nicht allein ökonomischer Natur – womöglich gar nicht an erster Stelle. Bei Europa war es die irrtümliche Idee, es könne eine wirtschaftliche Union ohne eine politische geben. Aufseiten der reicheren europäischen Länder gab es wenig Begeisterung, den schwächeren Volkswirtschaften aus der Misere zu helfen, insbesondere wenn diese sich unverantwortlich oder gar betrügerisch verhalten hatten. Warum sollten Deutsche mit 67 in Rente gehen, damit Griechen sich mit 53 zur Ruhe setzen konnten? Mit anderen Worten, bei allem Gerede von europäischer Identität und gemeinsamen Werten bestand wenig Solidarität. Womöglich konnte es die gar nicht geben.
    Das sollte eigentlich niemanden groß überraschen. Wenn wir einen Blick auf die Weltgeschichte der letzten 100 Jahre werfen, so gibt es nur wenige Fälle von Ländern, die sich vereinigten, dafür aber mehr solcher Fälle, in denen es zur Spaltung kam. Die Sowjetunion zerfiel zu einem Dutzend neuer Staaten, Jugoslawien zu knapp einem halben Dutzend, und die Tschechen und Slowaken kamen zu dem Schluss, dass sie mit einer Trennung besser dran wären. Selbst in Ländern, die schon lange vereint waren, bildeten sich starke separatistische Tendenzen heraus. Als die Vereinten Nationen gegründet wurden, hatten sie 51 Mitglieder, heute sind es 193.
    Der europäische Traum kam nicht auf einen Schlag. Schon 1849 gab es in Paris einen Friedenskongress. Die Eröffnungsansprache hielt Victor Hugo:
    »Ein Tag wird
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