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Europa nach dem Fall

Titel: Europa nach dem Fall
Autoren: Walter Laqueur
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kommen, wo Ihr, Frankreich, Russland, Italien, England, Deutschland, all Ihr Nationen des Kontinents ohne die besonderen Eigenheiten Eurer ruhmreichen Individualität einzubüßen, Euch eng zu einer höheren Gemeinschaft zusammenschließen und die große europäische Bruderschaft begründen werdet … Ein Tag wird kommen, wo es keine anderen Schlachtfelder mehr geben wird als die Märkte, die sich dem Handel öffnen, und der Geist, der sich den Ideen öffnet. Ein Tag wird kommen, wo die Kugeln und Bomben durch Stimmzettel ersetzt werden, durch das allgemeine Wahlrecht der Völker, durch die Entscheidungen eines großen souveränen Senates, der für Europa das sein wird, was das Parlament für England und die Nationalversammlung für Frankreich ist.«
    Victor Hugo sprach noch lange so weiter. Es war eine bewegende Rede, doch der Tag ist leider bis heute noch nicht gekommen.

Die Rezession
    Noch vor wenigen Jahren wurde das »europäische Modell« weithin gepriesen und den Amerikanern zur Nachahmung empfohlen. Weit davon entfernt, das europäische Modell gering zu schätzen und herabzuwürdigen, bewunderte ich viele seiner Aspekte und hielt es einer ernsthaften Studie für würdig, da mir bewusst war, dass Anprangerungen, die es als sozialistisches Horrorszenario verdammten, auf mangelnder Kenntnis beruhten. Aber konnte Europa sich dieses Modell leisten oder waren weitreichende Veränderungen überfällig geworden? War es nicht eher so, dass die ethnische Zusammensetzung Europas bedeutende Veränderungen durchmachte (zum Teil hatten diese bereits stattgefunden) und dass die Menschen viel länger lebten, was zwangsläufig politische und ökonomische Folgen haben musste? Es gab bis vor Kurzem eine große Versuchung, solche Sorgen abzutun. Ein solcher Skeptizismus konnte nur aufkommen, wenn die in Brüssel und durch Brüssel erreichten großen Fortschritte ignoriert und die Auswirkungen der Einwanderung einer relativ kleinen Zahl muslimischer Migranten gewaltig überschätzt wurden. Doch auch wenn Europa vor ernsten Problemen stand, traf es nicht zu, dass die Vereinigten Staaten, die im Niedergang befindliche Großmacht, mit noch größeren Bedrohungen konfrontiert waren? Das mag sein, aber in Die letzten Tage von Europa war mein Thema Europa, nicht Amerika, und es fehlte mir das Verständnis dafür, auf welche Weise das Elend Amerikas Europa nützen, geschweige denn helfen könnte, außer vielleicht psychologisch durch Schadenfreude.
    Die Art, wie sich Europa nach dem Zweiten Weltkrieg erholt hatte, war spektakulär und in mancher Weise verheißungsvoll gewesen, aber es hatte nach den ersten drei Jahrzehnten kaum mehr einen Fortschritt gegeben. Am Horizont ballten sich Sturmwolken zusammen. Die Wirtschaft in Europa zeigte Anzeichen von Schwäche, der Wohlfahrtsstaat schien auf einer unzureichenden wirtschaftlichen Grundlage zu ruhen und die Schulden wuchsen wie in den Vereinigten Staaten immer mehr an. Die neuen politischen Strukturen in Europa, die sich herausgebildet hatten, ließen viel zu wünschen übrig; es war wenig für eine konzertierte Aktion auf dem Gebiet der Außen- und Verteidigungspolitik sowie auch der Energieversorgung unternommen worden. Das Einströmen von Millionen Einwanderern vor allem aus muslimischen Ländern hatte zu ernsthaften Problemen geführt; weder der multikulturelle Ansatz noch die Integration schienen zu funktionieren.
    Kurz, es gab nicht nur eine sich anbahnende europäische Krise, sondern vielfältige Krisen. Vor allem herrschte eine starke Tendenz, diese negativen Entwicklungen und die bevorstehenden Bedrohungen zu ignorieren. Falscher Optimismus machte sich breit, was heute selbst mit der Überlegenheit nachträglicher Einsicht noch schwer zu verstehen ist.
    2008 brach die globale Wirtschaftskrise aus und der Optimismus vergangener Zeiten bezüglich der Zukunft Europas wich dem Pessimismus, sogar der Panik. Warum? Weil die übrigen Bedrohungen, mochten sie noch so ernst sein, keine unmittelbar bevorstehenden Gefahren waren, wohingegen sich ökonomische Krisen unmittelbar auswirken. Auf einmal wurde nicht nur in überwiegend pessimistischer Weise über die Zukunft des Euro spekuliert; sogar die Zukunft der Europäischen Union schien nach Jahren der Expansion nicht mehr gesichert zu sein.
    Als ich vor mehr als fünf Jahren über Europa schrieb, behandelte ich die ökonomische Lage nicht eingehend, was ich auch jetzt nicht vorhabe. Mit diesem Thema beschäftigen sich andere, besser
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