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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde
Autoren: John Irving
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[11]  1
    In der Obhut von Kirchgängern und
Ehemaligen
    Laut
seiner Mutter war Jack Burns bereits ein Schauspieler, bevor er Schauspieler
wurde, doch die lebhaftesten Erinnerungen an seine Kindheit waren die an jene
Augenblicke, in denen er den Drang verspürte, sich an der Hand seiner Mutter
festzuhalten. Das waren die Augenblicke, in denen er nicht spielte.
    Natürlich erinnern wir uns kaum an die Zeit vor unserem vierten oder
fünften Lebensjahr – und die wenigen Erinnerungen an diese ersten Jahre sind
sehr selektiv, unvollständig oder regelrecht falsch. Was in Jacks Erinnerung das erste Mal war, daß er das Bedürfnis
verspürte, sich an der Hand seiner Mutter festzuhalten, war in Wirklichkeit
wahrscheinlich das hundertste oder zweihundertste Mal.
    Vorschultests ergaben, daß Jack Burns über einen weit größeren
Wortschatz verfügte als Gleichaltrige, was bei Einzelkindern, die gewohnt sind,
Unterhaltungen zwischen Erwachsenen zuzuhören, nichts Ungewöhnliches ist –
insbesondere bei Einzelkindern von alleinerziehenden Müttern oder Vätern.
Signifikanter aber war, wie die Testergebnisse bewiesen, seine konsekutive
Gedächtnisleistung, die im Alter von drei Jahren der eines Neunjährigen
entsprach. Mit vier Jahren waren sein Erinnerungsvermögen für Einzelheiten (das
auch unerhebliche Details wie Kleidungsstücke und Straßennamen umfaßte) und
sein Verständnis von linearer Zeit vergleichbar denen eines Elfjährigen.
    Diese Testergebnisse verblüfften seine Mutter Alice, die ihn für ein
unkonzentriertes Kind hielt; in ihren Augen deutete Jacks [12]  Neigung zu
Tagträumen darauf hin, daß er für sein Alter eher unreif war.
    Trotzdem ging sie mit Jack im Herbst 1969, als er vier Jahre alt war
und noch nicht die Vorschule besuchte, zur Ecke Pickthall und Hutchins Hill
Road in Forest Hill, einem wohlhabenden Viertel von Toronto. Dort warteten sie,
wie sie Jack erklärte, auf den Schulschluß, damit er sich die Mädchen einmal
ansehen könne.
    St. Hilda war das, was man eine »konfessionelle Mädchenschule«
nannte. Das Angebot reichte von der Vorschule bis zur dreizehnten Klasse – die
gab es in Kanada damals noch –, und Jacks Mutter hatte beschlossen, daß er dort
eingeschult werden sollte, obwohl er ein Junge war. Von dieser Entscheidung
erzählte sie ihm erst, als sich, wie um sie beide zu begrüßen, die Haupttore
der Schule öffneten und Mädchen in verschiedenen Stadien von Mißmutigkeit und
Überschwang, von Adrettheit und Schlampigkeit herausströmten.
    »Nächstes Jahr«, verkündete Alice, »werden in St. Hilda auch Jungen
aufgenommen. Allerdings bloß sehr wenige und nur bis zur vierten Klasse.«
    Jack konnte sich nicht bewegen, ja er konnte kaum atmen. Mädchen gingen rechts und links an ihm vorbei – manche
waren groß und laut, und alle hatten Schuluniformen in den Farben an, von denen
Jack Burns später dachte, sie würden ihn bis an sein Lebensende begleiten: Grau
und Kastanienbraun. Die Mädchen trugen graue Pullover oder kastanienbraune
Blazer über weißen Matrosenblusen.
    »Dich werden sie jedenfalls aufnehmen«, sagte Jacks Mutter. »Dafür
werde ich sorgen.«
    »Wie?«
    »Darüber denke ich noch nach«, antwortete Alice.
    Die Mädchen trugen außerdem graue Faltenröcke und graue
Kniestrümpfe. Es war das erste Mal, daß Jack so viele nackte [13]  Beine sah. Er
verstand noch nicht, daß die Mädchen durch irgendeine innere Unruhe getrieben
wurden, die Strümpfe bis zu den Knöcheln oder wenigstens über die Waden
hinunterzuschieben – trotz der Schulregel, daß Kniestrümpfe bis zum Knie zu
reichen hatten.
    Jack Burns bemerkte, daß die Mädchen ihn gar nicht wahrnahmen oder
einfach durch ihn hindurchsahen. Nur eine gab es – sie war eine von den älteren
und hatte weiblich gerundete Hüften und Brüste, dazu Lippen, so voll wie die
von Alice –, die Jack in die Augen schaute, als sei sie außerstande, den Blick
abzuwenden.
    Jack war vier, und er war sich keineswegs sicher, ob er derjenige
war, der seine Augen nicht von ihr losreißen konnte, oder ob sie es war, die
magisch von seinem Blick angezogen wurde. Wie auch immer es sich verhielt – aus
ihrem Gesichtsausdruck sprach so viel Wissen, daß sie ihm angst machte.
Vielleicht hatte sie eine Art Vision gehabt, wie Jack als älterer Junge oder
als Erwachsener aussehen würde, und war gebannt von Sehnsucht und Verzweiflung.
(Oder von Angst und Erniedrigung, würde Jack Burns eines Tages denken, denn das
ältere Mädchen
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