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Europa nach dem Fall

Titel: Europa nach dem Fall
Autoren: Walter Laqueur
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überleben, in der allzu oft das Chaos herrscht, nicht die Gesetze des Internationalen Strafgerichtshofs, sondern die des Dschungels? Die Postmodernen werden nach zwei verschiedenen Regelkatalogen handeln müssen, nach einem, der den Umgang miteinander regelt, und einem (»die raueren Methoden einer früheren Zeit«), wenn es um die »Rüpel« geht, die noch nicht den avancierten Zustand der Postmoderne erreicht haben. Das klingt vernünftig, aber ist es auch praktikabel? »Liberaler Imperialismus« ist ein unnötig provokanter Begriff, der auch nicht für eine realistische Politik steht, denn die Entsendung einiger Tausend Menschen für begrenzte Zeit in ein fernes Land mit dem Befehl, nicht zu schießen, was auch immer geschieht, stellt keinen wirklichen Imperialismus dar.
    Es verwundert nicht, dass Coopers Thesen diejenigen irritiert haben, die bereit sind, bei Klerikalfaschismus, Diktaturen und sogar Völkermord ein Auge zuzudrücken, vorausgesetzt, dies tritt außerhalb Europas und der Vereinigten Staaten auf. Doch die wahre Schwäche dieser Politik liegt anderswo: Ein Verhalten nach zwei unterschiedlichen Katalogen von Regeln und Standardforderungen stellt nicht nur eine Diskriminierung dar, sondern erfordert auch eine Entschiedenheit, die heutzutage in Europa zu fehlen scheint. Europa als machtvoller Mitwirkender wäre höchst willkommen, aber wie ist an diese Rolle zu kommen? Will Europa in seiner Apathie überhaupt eine solche Rolle? Nach Schopenhauer ist es leicht, zu wollen, aber »wollen wollen« ist nahezu unmöglich. Die Pharmakologen haben für Menschen etliche nützliche Stärkungsmittel und Medikamente gegen individuelle Depressionen entwickelt; vielleicht werden sie eines Tages eine Behandlung für die Depressionen von Nationen und Generationen und zur Erzeugung politischen Willens entdecken. Der Tag ist noch nicht gekommen, und Depression ist nur ein Teil des europäischen Leidens.
    Teil I des vorliegenden Buchs beschäftigt sich mit dem Ablauf der europäischen Krise in den letzten Jahren und den möglichen Folgen; zwei Kapitel des zweiten Teils, der den Weg in die Krise und mögliche Auswege behandelt, beruhen zum Teil auf Die letzten Tage von Europa , sind aber auf den neuesten Stand gebracht. Für eine detailliertere Erörterung der Einwanderung nach Europa und der Integrationsversuche verweise ich den Leser auf dieses frühere Buch.

I. Krise

Der europäische Traum: »Der Tag wird kommen …«
    An einem deprimierenden Morgen voller Nachrichten über Irland am Rande des Abgrunds, Amerika gelähmt am Boden, Großbritannien vor harten Zeiten, Griechenland in Verzweiflung, Portugal jenseits von Verzweiflung, Italien und Spanien in akuter Gefahr, über »chronisch schwache Nachfrage«, »kraftlose Konjunktur«, »Kollisionskurs in Europa«,»Euro vor dem Aus«, »verhängnisvolle Folgen« und »dem Absturz entgegen« bot den einzigen Trost ein Blick auf die vor sechs oder sieben Jahren erschienene inspirierende Literatur zum europäischen Traum, zu einem postnationalen Modell von Frieden, Wohlstand, sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Tugendhaftigkeit. Aufmunternd wirkt sicherlich das Wissen, dass Europa eine Mordrate aufweist, die nur ein Viertel so hoch ist wie die der USA; und dass Europa den USA überlegen ist, was die Alphabetisierungsrate, die Lebenserwartung und die Höhe der verteilten humanitären Hilfe betrifft. In den letzten 60 Jahren hatte in Europa eine Revolution stattgefunden, welche die meisten Amerikaner schlichtweg nicht bemerkt hatten. Ein neuer Ausgleich zwischen privaten Besitzrechten und dem Gemeinwohl, zwischen behördlicher Regulierung und dem freien Markt, zwischen Freiheit und Gleichheit war erreicht worden – was Amerika mit seinem naiven Glauben an die Allheilkraft des freien Kapitalmarkts nie geschafft hatte. Die Auswüchse des Konsumkapitalismus waren gebändigt worden. Weiter würde der Blick auf ein anderes Buch fallen, das in überzeugender Ausführlichkeit vorhersagte, dass die Zukunft dem europäischen Modell gehörte, dass die ganze Welt ihm nacheifern würde – ein leuchtendes Beispiel für die ganze Menschheit. Europa war mit einem neuen Vorstoß zu einer humanitären Außenpolitik vorangegangen. Endlich lebte es in Frieden mit sich selbst und dem Rest der Welt. Es war gesund und nachhaltig; es war stressfrei im Gegensatz zum fiebrigen, unausgeglichenen Amerika. Die Zukunft gehörte Europa.
    Es gibt immer noch ein paar Stimmen, die behaupten, Europa
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