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Für Nikita

Für Nikita

Titel: Für Nikita
Autoren: Polina Daschkowa
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Erstes Kapitel
    Fedja saß auf dem Fußboden, die Beine gekreuzt, die Füße nach oben gerichtet. Sein kahlgeschorener Kopf war weit in den Nacken
     gebeugt, seine wasserblauen Augen blickten starr an die Decke. Er wiegte sich sanft hin und her, und in ihm schien etwas zu
     summen und zu vibrieren.
    »Omm, omm …« Seine Lippen bewegten sich kaum, der Laut drang aus seinem Bauch.
    Vor einem Jahr hatte sein »Omm« noch kindlich dünn geklungen, nun kam er in den Stimmbruch. Fedja war gewachsen, über seiner
     Oberlippe schimmerte dunkler Flaum, auf seiner Stirn sprossen mehrere kleine Pickel.
    »Guten Tag, mein Sohn«, sagte Jegorow und versuchte zu lächeln. Der Junge fuhr fort, sich zu wiegen.
    »Fedja, guten Tag«, sagte der Vater etwas lauter und holte auf den abwartenden Blick des Arztes hin seine Brieftasche heraus.
    »Er hört und sieht Sie nicht«, erinnerte ihn der Arzt und steckte den Geldschein rasch in seine Kitteltasche. »Aber bitte
     nicht lange. Das letzte Mal habe ich nämlich Ärger bekommen.«
    »Dürfte ich mit ihm allein bleiben?«
    »Auf keinen Fall.«
    »Mehr Geld habe ich nicht bei mir, entschuldigen Sie. Ich entschädige Sie das nächste Mal …«
    »Darum geht es nicht.« Der Doktor verzog das Gesicht. »Hören Sie, Sie sind doch nicht etwa krank? Sie sehen schlecht aus.
     Sie haben abgenommen.«
    Jegorow sah wirklich schlecht aus. Er hatte vor fünf Minuten einen flüchtigen Blick in den Spiegel der Krankenhaushalle geworfen
     und dabei festgestellt, daß die Schatten unter seinen Augen tiefer und dunkler geworden waren. Sein Kopf sah beinahe aus wie
     ein Totenschädel: vollkommen kahl, Augen und Wangen eingefallen.
    »Ja, es geht mir nicht besonders.« Er nickte. »Zu hoher Blutdruck, die Magnetstürme.«
    Der Arzt erbarmte sich. »Na schön, ich gehe kurz raus, eine rauchen.«
    »Danke. Ich werde mich revanchieren«, flüsterte Jegorow dem weißen Kittel hinterher.
    Die Tür wurde geschlossen.
    »Na, wie geht es dir, mein Sohn?« Er hockte sich hin und strich mit der Hand über den warmen, kahlgeschorenen Kopf.
    »Omm, omm …«
    »Der Arzt sagt, du ißt nicht. Findest du es etwa angenehm, wenn sie dich mit Gewalt füttern? Du mußt essen, Fedja. Ich hab
     alles mitgebracht. Du wächst doch noch. Bald bist du ein Mann und mußt stark sein.«
    Fedja hörte auf, sich zu wiegen. Langsam senkte er den Kopf, das Kinn fiel auf die Brust. Der Kragen des Krankenhaushemdes
     klaffte auf und entblößte eine schwarze Tätowierung unter der Halsgrube. Ein fünfzackiger Stern, der auf der Spitze steht,
     in einem Kreis. Um das Pentagramm herum war die Haut ständig gerötet und entzündet, obwohl die Tätowierung schon fast fünf
     Jahre alt war.
    »Sag doch etwas, mein Sohn.«
    Über die Augen des Jungen legte sich ein matter Schleier, wie bei einem schlafenden Vogel. Das Brummen war verstummt. Jegorow
     versuchte, die fest ineinander verflochtenen dünnen Beine seines Sohnes zu lösen, und erinnertesich, wie Fedja der Lotossitz zum erstenmal gelungen war.
    Der Junge drehte die Füße, vor Anstrengung ganz rot und verschwitzt. Ihm gegenüber, auf einem abgewetzten Teppich, saßen seine
     Mutter, sein älterer Bruder und noch zwei Dutzend Leute. Alle waren in Laken gehüllt, alle drehten die nackten Füße nach oben,
     wiegten sich und wiederholten einen unheimlichen, vibrierenden Laut: »Ommm!«
    Jegorow erstarrte auf der Schwelle. Erst wollte er loslachen. Erwachsene Menschen in Bettlaken saßen im Kreis und muhten wie
     eine Herde Kühe – das erschien ihm einfach albern. Doch als er genauer hinsah, verging ihm das Lachen. Die Gesichter wirkten
     wie Gipsmasken, die Augen wie tot, erstarrt. Das vielstimmige Brummen von Männern, Frauen und Kindern breitete sich in einer
     ganz normalen Turnhalle einer ganz normalen Moskauer Schule aus wie schweres, giftiges Gas.
    Der Direktor vermietete die Turnhalle abends an eine Gruppe, die sich »Gesunde Familie« nannte. Gymnastik, Yoga, vernünftige
     Ernährung, der Weg zu geistiger und körperlicher Vollkommenheit. Der Unterricht war kostenlos und fand dreimal wöchentlich
     statt, von sechs bis neun.
    Jegorow erkannte seine Frau und seine Kinder in dem muhenden Kreis kaum. Als ersten entdeckte er Fedja. Auf dem kindlichen
     Gesicht spiegelte sich noch lebendige menschliche Mimik. Der Junge runzelte die Stirn, während er versuchte, die umgedrehten
     Füße auf den gebeugten Knien zu plazieren. Der kurze Schopf klebte ihm schweißnaß auf der
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