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Europa nach dem Fall

Titel: Europa nach dem Fall
Autoren: Walter Laqueur
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Europa knapp ein Jahr vor Ausbruch des Krieges und hatte bis dahin nur einen kleinen Teil des Kontinents kennengelernt.
    Als ich nach Kriegsende zu kurzen und längeren Besuchen zurückkehrte, fand ich ein ganz anderes Europa vor – und ich hatte keinen Grund, das nicht zu glauben, was mir erzählt wurde. Seither habe ich mich in den meisten europäischen Staaten aufgehalten und Europa ist mein Hauptstudiengebiet geworden. Meine Kinder sind auf beiden Seiten des Atlantiks zur Schule gegangen, und ich habe ebenfalls auf beiden Seiten gearbeitet. Die europäische Kultur war der prägende Einfluss in meinem Leben, wenngleich mehr in historischer als in zeitgenössischer Ausprägung. Ich hatte das große Glück, in meinem Leben von einer Vielzahl globaler Perspektiven zu profitieren. Wenn ich aus unserem Fenster in Washington, D.C., blicke, sehe ich die Waschbären und Eichhörnchen, die auf den Bäumen des Rock Creek Parks herumklettern. Wenn ich aus dem Fenster im Londoner Stadtteil Highgate blicke, sehe ich die Eichhörnchen im Waterloo Park und (beinahe) das Grab von Karl Marx.
    Da ich Europa und die Europäer in guten wie in schlechten Zeiten erlebt habe, ist nun die Zeit für eine Bilanz gekommen. Den Versuch dazu habe ich schon vor fünf Jahren in einem Buch mit dem Titel Die letzten Tage von Europa unternommen. Die darin zum Ausdruck gebrachten Ansichten wurden zum Teil ziemlich skeptisch aufgenommen, denn es handelte sich um eher unzeitgemäße Betrachtungen, und das Buch kam sicherlich zu früh. Fünf Jahre können nicht mehr als eine Minute in der Geschichte sein, aber auch eine sehr, sehr lange Zeit. Als das Buch herauskam, herrschte die allgemeine Ansicht, dass Europa und speziell die Europäische Union nicht zu schlecht dastanden. Die EU hatte schließlich eine gemeinsame Währung bekommen. Der Rezensent in The Economist , meiner »Bibel« unter den Wochenzeitschriften, legte mir »unzulässig apokalyptische Schlussfolgerungen« zur Last. Doch nun sehe ich, dass ein erst kürzlich erschienener Leitartikel über die Zukunft Europas im selben Journal betitelt ist mit »Blick in den Abgrund«.
    Damals habe ich nicht in den Abgrund geblickt, was ich auch jetzt nicht tue; ich sagte lediglich voraus, dass Europa sich möglicherweise in ein Museum oder einen kulturellen Vergnügungspark für wohlhabende Touristen aus Ostasien verwandeln könnte – keine besonders heroische oder tragische Aussicht, die sich aber nicht mit meiner Vorstellung von einem Abgrund oder der Apokalypse deckt. Es stimmt, dass ich damals bei der Behandlung der zahlreichen Probleme mehr Gewicht auf die langfristigen Herausforderungen wie die demografische Entwicklung legte, wohingegen in jüngster Zeit aufgrund der globalen Rezession und speziell der europäischen Schuldenkrise die unmittelbaren Gefahren in den Vordergrund gerückt sind. Das ist ganz natürlich, da der Zusammenbruch von Banken, steigende Arbeitslosigkeit und Sparhaushalte unmittelbare Gefahren darstellen, die alle betreffen, wohingegen sich langfristige Bedrohungen beiseiteschieben lassen – es besteht immer die Chance, dass sie nicht eintreten werden.
    Der von einigen geäußerte Unglaube, der vor fünf Jahren mein Buch begleitete, verstörte mich. Selbst damals waren die Anzeichen für den Niedergang so augenfällig – wie konnten sie bezweifelt und ignoriert werden? Schon mehrfach war auf sie hingewiesen worden. Es gibt etliche Erklärungen für das Ignorieren des Offensichtlichen, aber sie sind nun von rein historischem Interesse. Wir stehen vor drängenderen Problemen: Der Niedergang Europas scheint offensichtlich, was die vorhersehbare Zukunft betrifft, aber es muss kein Zusammenbruch sein. Was lässt sich tun, um eine weiche Landung und vielleicht sogar eine Erholung zu einem zukünftigen Zeitpunkt zu bewerkstelligen? Inzwischen sind die derzeitigen Probleme der Europäischen Union vordringlicher geworden als die etwas ferner liegenden demografischen Fragen. Wird Europa sich eher für die Vereinigten Staaten von Europa als für die gegenwärtige Kompromisslösung entscheiden? Oder bleiben die Aussichten für eine effektive Union trübe und jedes Land wird sich allein seinen jeweiligen Schwierigkeiten stellen? Wie viel Macht wird diese neue, mehr zentralisierte und gestärkte Union haben? Wird die Verlagerung der Souveränität von den Nationalstaaten auf die EU auch die Außen- und Verteidigungspolitik einschließen? Angenommen, die Vereinigten Staaten von Europa
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