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Sandra und die Stimme der Fremden

Sandra und die Stimme der Fremden

Titel: Sandra und die Stimme der Fremden
Autoren: Margot Kreuter
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    An einem schulfreien Samstagmorgen im September stand Sandra auf der Obstleiter in Florian Seibolds Garten.
    Florian Seibold war ein alter Herr von fast siebzig Jahren, Rechtsanwalt und Strafverteidiger in Ruhe. Sandras Großmutter, Frau Ansbach, führte ihm seit vielen Jahren den Haushalt. Genauso lange fühlten Sandra und ihr Freund Joschi sich willkommen in der alten Villa am Fluß.
    Früher hatten sie ihre Ferien hier verbracht, um unter Aufsicht zu sein, während ihre berufstätigen Mütter ihrer Arbeit nachgingen.
    Inzwischen waren sie fünfzehn. Doch noch immer fanden sie sich zu allen Familienfesten hier ein, und im Sommer und Herbst boten sie sich für die Gartenarbeiten an, die Herrn Seibold und Frau Ansbach zu beschwerlich geworden waren.
    Auf hohe Bäume zu klettern, gehörte allerdings nicht mehr zu Sandras Lieblingsbeschäftigung.
    Mißtrauisch beobachtete Sandra jetzt das Schwanken der Äste, die ein heftiger Wind bewegte. Mit den Ästen bewegte sich die Leiter, auf deren mittlerer Höhe Sandra sich nach den reifen Birnen reckte.
    Es beruhigte sie nicht, daß sie sich sagte, ihre Großmutter stehe unten und halte die Leiter fest. Kalter Schweiß brach auf ihrer Stirn aus. Sandra war nicht schwindelfrei.
    Diese Schwäche hatte sie in letzter Zeit öfter an sich beobachtet. Ihre Mutter meinte, ihr schnelles körperliches Wachstum sei schuld daran.
    Doch das tröstete Sandra nicht. Es ärgerte sie vor allem deshalb, weil Joschi, der im letzten Jahr nicht weniger als Sandra gewachsen war, in der luftigen Baumkrone saß, ohne eine Spur von Angst zu zeigen. Mit den Knien umklammerte er einen dünnen Ast, mit einer Hand hielt er den Korb, mit der anderen pflückte er Birnen. Zwischendurch fand er immer noch Zeit, den Schiffsverkehr auf dem Fluß zu beobachten.
    Der Wind blies kräftiger.
    Sandra blickte hilfesuchend zu ihrer Großmutter hinunter.
    Doch das erwies sich als ein schlechter Einfall. Der Rasen schien sich zu heben und auf sie zuzukommen.
    Sandra wurde klar, daß sie in diesem Baum festsaß. Sie fand weder den Mut noch die Kraft, sich zu rühren. Entweder sie fiel wie eine überreife Birne vom Baum, oder ein paar starke Männer mußten kommen und die Leiter mit der sich daran anklammernden Sandra umlegen. Aus eigener Anstrengung konnte sie den rettenden Rasen nie erreichen, so viel war Sandra klar.
    In diesem Augenblick läutete die eiserne Kuhglocke über der Gartentür, dem Nebeneingang zum Haus.
    Susi, Florian Seibolds Dackelhündin, die den Sammelkorb unter dem Baum bewachte, sprang auf und stob bellend durch die Beete.
    „Hallo!“ rief ein Mann in einem blauen Arbeitsanzug, der über den Plattenweg näherkam. „Ich habe eine Lieferung für Frau Arnold nebenan. Aber da öffnet niemand. Könnten Sie das wohl annehmen?“
    Sandra bemerkte entsetzt, daß ihre Großmutter die Leiter losließ und auf den Mann zuging.
    „Oma...! Die Leiter, Oma!“ rief Sandra in Panik.
    Doch ihre Großmutter kümmerte sich nicht um Sandras Protestgeschrei, sondern eilte davon, um die Hosenbeine des Fremden vor Susis scharfen Zähnen zu bewahren.
    Ohne daß es ihr in ihrer Angst recht bewußt wurde, ergriff Sandra den halbvollen Pflückkorb, den sie an einem Eisenhaken in eine der Sprossen eingehängt hatte, und kletterte geschwind wie eine Eichkatze die Leiter hinunter.
    Erst als Joschi ihr zurief: „He, hast du deinen Korb schon wieder voll?“ begriff Sandra, daß sie auf sicherem Boden stand.
    „Es wird mir zu windig. Ich mache Schluß!“ rief sie zu Joschi hinauf.
    Joschi lachte. Er schlenkerte mit den Beinen und wippte auf dem Ast auf und ab.
    „Laß das! Du brichst dir das Genick!“ schrie Sandra.
    „Täte es dir leid?“ fragte Joschi, hörte jedoch zu wippen auf, als der Ast bedrohlich knarrte.
    „Ich will nur nicht, daß meine Großmutter sich aufregt, wenn du herunterfällst“, erwiderte Sandra betont gleichgültig.
    „Einen Freund wie mich findest du so leicht nicht wieder“, warnte Joschi lachend.
    „Pff!“ machte Sandra wegwerfend, obwohl sie wußte, daß er recht hatte.
    Sie schüttete ihre Ernte in den Sammelkorb und ging zu ihrer Großmutter, die sich mit dem Lieferanten unterhielt.
    „Sandra“, sagte Frau Ansbach, „hast du Frau Arnold gesehen?“
    „Vor einer Weile grub sie in ihrem Garten Kartoffeln aus“, erwiderte Sandra mit einem Blick auf das hinter Flieder- und Schattenmorellenbäumen versteckte Haus.
    Die beiden Nachbargrundstücke
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