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Des Abends eisige Stille

Des Abends eisige Stille

Titel: Des Abends eisige Stille
Autoren: Susan Hill
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    1
    I m Frühlicht lag der Nebel weich und rauchig über der Lagune, und es war noch so kühl, dass Simon Serrailler froh um seine gefütterte, wasserabweisende Jacke war. Wartend stand er auf der leeren Fondamenta, den Kragen hochgeschlagen, eingehüllt in die gedämpfte Stille. Bei Tagesanbruch an einem Sonntagmorgen im März tat sich kaum etwas in diesem Teil Venedigs, in den nur wenige Touristen kamen; Sonntag war Ruhetag, und sogar die frühen Kirchgänger waren noch nicht auf den Beinen.
    Er mietete hier stets dieselben zwei Zimmer über dem leeren Lagerhaus seines Freundes Ernesto, der jeden Moment anlegen würde, um Simon auf die andere Seite der Lagune zu bringen. Die Zimmer waren gemütlich und schlicht, erfüllt vom wunderbaren Licht des Wassers und des Himmels. Nachts war es ruhig, und von der Fondamenta aus konnte Simon an den abgelegenen Kanälen entlangwandern und nach Motiven für seine Zeichnungen Ausschau halten. In den vergangenen zehn Jahren war er mindestens einmal, wenn nicht zweimal pro Jahr hier gewesen. Es war sowohl Arbeitsplatz wie auch Schlupfloch aus seinem Leben als Detective Chief Inspector, genauso wie es ähnliche Zufluchtsorte in Florenz und Rom gab. In Venedig fühlte er sich am meisten zu Hause, deshalb kehrte er immer wieder hierher zurück.
    Das Tuckern eines Motors kündigte das Boot an, das gleich darauf neben ihm aus dem silbrigen Nebel auftauchte.
    »Ciao.«
    »Ciao, Ernesto.«
    Das Boot war klein und zweckmäßig, ohne die romantischen Verzierungen traditioneller venezianischer Gondeln. Simon verstaute seine Segeltuchtasche unter dem Sitz und stellte sich neben den Bootsführer, der wendete und über das offene Wasser preschte. Der Nebel legte sich wie Spinnweben auf ihre Gesichter und Hände, und Ernesto verlangsamte für eine Weile die Fahrt, bis sie plötzlich eine Schneise durch den Dunstschleier zu schlagen schienen und in ein diesiges, gelbliches Licht gelangten, in dem Simon die vor ihnen liegende Insel erkennen konnte.
    Er war schon mehrmals auf San Michele gewesen, war herumgewandert, hatte Eindrücke in sich aufgenommen – eine Kamera benutzte er nie –, und er wusste, dass er die Insel mit etwas Glück um diese Uhrzeit für sich allein haben würde, selbst ohne die schwarz gekleideten, arthritischen Witwen, die hier ihre Familiengräber in Ordnung hielten.
    Ernesto sagte nicht viel. Er war kein redseliger Italiener. Er war Bäcker, arbeitete nach wie vor in der höhlenartigen Backstube, wie Generationen seiner Familie zuvor, und lieferte immer noch selbst das frische, warme Brot an den Kanälen aus. Aber er würde der Letzte seiner Familie sein, sagte er jedes Mal, wenn Simon kam; seine Söhne hatten kein Interesse, studierten in Padua und Genua, und seine Tochter war mit dem Geschäftsführer eines Hotels in der Nähe von San Marco verheiratet. Wenn Ernesto mit dem Backen aufhörte, würden die Öfen erkalten.
    Die Lagunenstadt veränderte sich, venezianische Traditionen verschwanden, die Jugend blieb nicht, machte sich nichts aus dem harten Alltagsleben auf den Booten. Venedig würde bald sterben. Simon fand das schwer zu glauben, konnte die Prophezeiungen des nahenden Untergangs nicht recht ernst nehmen, wo doch die alte, magische Stadt immer noch da war, nach Tausenden von Jahren und trotz aller düsteren Vorhersagen, die über der Lagune schwebten.
    Irgendwie, in irgendeiner Form würde die Stadt überleben, auch das echte Venedig, nicht nur die überfüllten und teuren Touristenviertel. Die Menschen, die an den abgelegeneren Wasserarmen jenseits der Zattere und der Fondamenta und an den Kanälen hinter dem Bahnhof lebten und arbeiteten, würden das auch noch in hundert Jahren tun, einander stützen und ihre Dienste in den Hotels und Touristenvierteln anbieten.
    »Venedig stirbt«, wiederholte Ernesto jedoch, deutete auf San Michele, die Insel der Toten, bald würde das alles so sein, ein einziger großer Friedhof.
    Sie legten am Landungssteg an, und Simon stieg mit seiner Tasche aus.
    »Mittags«, sagte Ernesto. »Gegen zwölf.«
     
    Simon winkte und ging zum Friedhof mit den gepflegten Wegen und den reich verzierten Marmorgrabmälern.
    Das Motorengeräusch verklang fast sofort, worauf Simon nur noch seine eigenen Schritte, ein wenig Vogelgezwitscher und sonst nichts als die außerordentliche Stille vernahm.
    Er hatte recht behalten. Niemand war hier – keine gebückten alten Frauen mit schwarzen Kopftüchern, keine Familien mit kleinen Jungs
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