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Des Abends eisige Stille

Des Abends eisige Stille

Titel: Des Abends eisige Stille
Autoren: Susan Hill
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praktische Ärztin, war die Zweite, ihr Bruder Ivo, Arzt in Australien, der Dritte. Martha war zehn Jahre später zur Welt gekommen, als Richard und Meriel Serrailler Mitte vierzig waren; sie war geistig und körperlich schwerstbehindert und hatte den größten Teil ihres Lebens in einem Pflegeheim verbracht. Martha würde Simon erkennen oder auch nicht. Das wusste keiner.
    Der Anblick seiner Schwester bewegte ihn immer zutiefst. Mal lag sie im Bett, mal saß sie im Rollstuhl, ihr Körper aufgerichtet und angeschnallt, ihr Kopf abgestützt. Bei gutem Wetter schob er sie in den Garten und auf den Wegen zwischen den Büschen und Blumenbeeten hindurch. Sonst saßen sie in ihrem Zimmer oder in einem der Aufenthaltsräume. Es gab nichts, was er ihr mitbringen konnte. Er redete mit ihr, hielt ihre Hand und küsste sie, wenn er kam und wieder ging.
    Über die Jahre hatte er sich weniger Gedanken darüber gemacht, ob sie ihn erkannte oder etwas von seiner Gesellschaft hatte, und auch falls seine Besuche für sie keine Bedeutung hatten, wurden sie für ihn wichtig, in ähnlicher Weise wie seine Besuche in Italien. Bei Martha war er jemand anderer. Die Zeit, die er neben ihr verbrachte, ihre Hand hielt, nachdachte, leise redete, ihr half, durch den Strohhalm zu trinken oder vom Löffel zu essen, erfüllte und beruhigte ihn und führte ihn von allem anderen in seinem Leben fort.
    Sie war mitleiderregend, hässlich, sabbernd, kommunikationsunfähig, kaum ansprechbar, und als Junge hatte er sie peinlich gefunden und sich unbehaglich gefühlt. Martha hatte sich nicht verändert. Er hatte sich verändert.
    Seine Eltern erwähnten sie gelegentlich, aber über ihre Situation wurde weder ausführlich noch im Detail gesprochen, und die Gespräche blieben stets gefühllos. Was empfand seine Mutter für sie, und wie dachte sie über Martha? Sein Vater besuchte Martha regelmäßig, sprach jedoch nie darüber.
    Wenn es ihr schlecht ging, wurde ihr Zustand immer sehr rasch akut, und doch hatte sie fünfundzwanzig Jahre lang überlebt. Erkältungen führten zu Bronchitis und dann zu Lungenentzündung.
»Wenn du deine Schwester noch lebend sehen willst …«
Aber all das war schon öfter passiert. Würde sie diesmal sterben? War er deswegen traurig? Wie konnte er? Wie konnte das überhaupt jemand? Wünschte er sich ihren Tod? Simon war verwirrt. Aber er musste darüber reden. Sobald er in Heathrow gelandet war, würde er Cat anrufen.
    Er trank noch einen Schluck Gin. Im Gepäckfach über seinem Kopf lagen zwei Skizzenblöcke voll neuer Zeichnungen, aus denen er die besten aussuchen würde, um sie für die Ausstellung fertigzustellen. Vielleicht hatte er doch genug zusammen und hätte in den zusätzlichen fünf Tagen in Venedig nur noch herumgelungert.
    Als sein Drink leer war, zog er einen kleinen Skizzenblock heraus, den er immer bei sich trug, und zeichnete die kunstvoll geflochtenen, mit Perlen verzierten Zöpfe der jungen Afrikanerin im Sitz vor ihm.
    Das Flugzeug flog dröhnend über die Alpen.

[home]
    2
    I ch bin’s.«
    »Hallo!« Erfreut wie immer, die Stimme ihres Bruders zu hören, machte sich Cat Deerborn für einen gemütlichen Plausch bereit. »Warte mal, Si, ich muss mich bloß noch richtig hinsetzen.«
    »Geht’s dir gut?«
    »Alles prima, ich weiß nur nicht mehr, wie ich es mir bequem machen soll.«
    Cats Baby, ihr drittes Kind, sollte in wenigen Wochen zur Welt kommen.
    »Okay, besser krieg ich es nicht mehr hin … Aber hör zu, es kostet doch ein Vermögen, per Handy aus Italien anzurufen, soll ich dich zurückrufen?«
    »Ich bin in Heathrow.«
    »Was …?«
    »Dad hat angerufen. Er hat gesagt, ich solle lieber nach Hause kommen, wenn ich meine Schwester noch lebend sehen will.«
    »Oh, sehr taktvoll ausgedrückt.«
    »Wie immer.«
    »Ma und ich hatten beschlossen, es dir nicht zu sagen.«
    »Warum?«
    »Weil du den Urlaub dringend nötig hattest und es nichts gibt, was du tun kannst. Martha erkennt dich sowieso nicht …«
    »Aber ich sie.«
    Cat verstummte.
    Dann sagte sie: »Natürlich. Entschuldige.«
    »Lass nur. Hör zu, ich werde erst spät ankommen und fahre dann direkt ins Krankenhaus.«
    »Gut. Chris ist bei einem Hausbesuch, aber es kann gut sein, dass er auch noch vorbeischaut, wenn er in der Gegend ist. Kommst du morgen zu uns raus? Ich kriege meinen dicken Bauch nicht mehr hinters Steuer.«
    »Was ist mit Ma?«
    »Ich weiß einfach nicht, was sie empfindet, Si, du kennst das ja. Sie geht ins
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