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Des Abends eisige Stille

Des Abends eisige Stille

Titel: Des Abends eisige Stille
Autoren: Susan Hill
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kümmern kann.
    Er erwischte sich bei diesen Gedanken und hätte beinahe gelacht.
    Andy drehte sich um und reichte dem Wärter die erneut gesäuberte Harke zur Prüfung. Er nahm es Hickley nicht übel. Es gab immer so einen. Hickley war nicht wie die anderen Schließer, die sie mehr wie Lehrer ihre Schüler behandelten und damit das Beste aus ihnen herausholten. Für Hickley waren sie nach wie vor Knastbrüder, der Feind. Abschaum. War Andy Abschaum? In den ersten paar Wochen hinter Gittern hatte er sich so gefühlt. Er war von dem Ganzen völlig niedergeschmettert, vor allem aber von der Realität, die er nicht in seinen Kopf bekam, nämlich dass er hier saß, weil er während eines verpfuschten Raubüberfalls aus Panik einen unschuldigen Mann geschubst hatte und der Mann auf dem Beton aufgeschlagen war, sich den Schädel gebrochen hatte und gestorben war. Das Wort
Mörder
war in seinem Kopf herumgerollt wie eine Murmel in einer Schüssel,
Mörder
,
Mörder, Mörder
. Was war ein Mörder anderes als Abschaum?
    Er wartete, während der Wärter die Harke überprüfte. Mach schon, leg sie unters Mikroskop, na los, du wirst nicht den kleinsten Fleck finden.
    Aber Hickley würde ihm nicht alles Gute wünschen, würde eher ersticken, als ihm zu seiner endgültigen Entlassung zu gratulieren. »Lass dich von dem Drecksack nicht fertigmachen«, hatte ihm jemand vor achtzehn Monaten, an seinem ersten Tag hier draußen, geraten. Daran dachte Andy wieder, als er ohne ein Wort oder einen Blick zurück auf Hickley aus dem Schuppen trat und durch den Gemüsegarten zum Ostflügel der offenen Strafvollzugsanstalt Birley ging.
    Durch einen Ventilator im Küchentrakt wurde der Geruch nach gekochten Eiern zu ihnen geblasen; aus einem offenen Fenster war das Geräusch eines Pingpongballs auf der Tischtennisplatte zu hören, pock-pock, pock-pock.
    Einmal, während seiner ersten Woche im Stackton-Gefängnis, hatte ein Schließer ihn sagen hören: »Es gibt immer ein erstes Mal«, und hatte zurückgefaucht: »Nein, Gunton, es gibt nicht immer ein erstes Mal, aber so sicher wie das Höllenfeuer immer ein letztes.«
    In seinem damaligen verstörten und niedergeschlagenen Zustand, vor über vier Jahren, hatten sich die Worte in sein Gedächtnis gebohrt wie ein Pfeil in die Zielscheibe und waren dort hängengeblieben.
    Es gibt immer ein letztes Mal
. Er blieb an der Tür zu seinem Wohntrakt stehen und schaute sich um. Der letzte Arbeitstag. Zum letzten Mal eine Harke gereinigt. Die letzte Konfrontation mit Hickley. Die letzten gekochten Eier mit Rote-Bete-Salat und Kartoffeln. Das letzte Billardspiel. Die letzte Nacht in dem Bett. Letzte. Letzte. Letzte.
    Sein Magen rumpelte kurz, als die schwindelerregenden Gedanken an die Außenwelt wieder einsetzten. Er war schon draußen gewesen, zuerst bei Einkäufen mit einem Schließer, dann beim Ausliefern des Gemüses, aber es war nicht dasselbe, das wusste er. Der offene Strafvollzug lockerte die Fesseln Stück für Stück, aber man trug sie nach wie vor, man gehörte immer noch nach drinnen und nicht nach draußen, war immer noch dadurch bestimmt, wo man aß und schlief, welche Gesellschaft man hatte, welche Vergangenheit, warum man hier war.
    Dem Körper wurde erlaubt, nach draußen zu gehen, aber der Geist blieb hinter Gittern, konnte nicht, wagte nicht, das in sich aufzunehmen.
    Er schloss die Tür auf. Die Spätnachmittagssonne berührte die pilzfarbene Wand und ließ sie noch schmuddeliger aussehen. Hier musste dringend gestrichen werden. Am Anfang hatten sie sich wohl sehr angestrengt, waren sicherlich stolz darauf gewesen, dass es möglichst wenig nach Gefängniszelle aussah und die Gemeinschaftsräume mehr wie ein Jugendclub und die Anstalt wie ein Bürogebäude. Doch jetzt musste alles erneuert, frisch gestrichen, möbliert, ersetzt werden, wozu sie nie zu kommen schienen.
    Das letzte Mal, das letzte Mal, das letzte Mal. Raus hier. Raus …
    Andy öffnete das Fenster. Ihm fielen die ersten Tage ein, als er sich nicht an diese kleinen Dinge hatte gewöhnen können, wie das Fenster öffnen zu dürfen, wenn er es wollte. Er hatte es immer wieder gemacht, das Fenster geöffnet und geschlossen, geöffnet und geschlossen.
    Er lehnte sich hinaus. Morgen würde dieser Raum jemand anderem gehören. Ein anderer Mann würde vom geschlossenen in den offenen Strafvollzug kommen und alles erneut machen. Das Fenster öffnen. Es schließen. Öffnen. Schließen, immer wieder. Morgen.
    Es klopfte an der
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