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Des Abends eisige Stille

Des Abends eisige Stille

Titel: Des Abends eisige Stille
Autoren: Susan Hill
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er ihr Haar betrachtete, die Biegung ihrer Nasenlöcher unter der breiten Nase und die Wimpern, wie feine Pinselstriche auf ihrer Wange, erkannte er, dass sie schön war, so wie ein Kind schön ist, weil weder Zeit noch Erfahrung auf ihrem Gesicht in irgendeiner Weise Spuren hinterlassen hatten. Während er mit den feinsten Bleistiftstrichen ihre Lider zeichnete, hielt er fast den Atem an.
    »Oh, Liebling …« Auf ihrem Kopf glitzerten Regentropfen. »Cat hat mir erzählt, dass du zurück bist.«
    Sie betrachteten die stille, eigentümlich flache Gestalt auf dem Bett.
    »Es tut mir so leid.«
    »Das muss es nicht.«
    »Jedes Mal, wenn ich durch diese Tür trete, fühle ich mich zerrissen«, sagte Meriel Serrailler. »Befürchte, dass sie tot ist. Hoffe, dass sie tot ist. Bete, aber ich weiß nicht, zu wem oder für was.« Sie beugte sich vor und hauchte einen Kuss auf Marthas Stirn.
    Simon zog den Stuhl für sie zurück.
    »Du warst dabei, sie zu zeichnen.«
    »Das wollte ich schon lange.«
    »Armes kleines Mädchen. War die Visite schon da?«
    »Bisher nicht. Ich habe gestern Abend mit Schwester Blake gesprochen. Und Chris ist gekommen.«
    »Es ist hoffnungslos, so oder so. Aber niemand will das aussprechen.«
    Er legte seiner Mutter die Hand auf den Arm, doch sie wandte sich ihm nicht zu. Sie klang – wie immer, wenn sie über Martha sprach – kühl, distanziert, professionell. Die Wärme in ihrer Stimme, den anderen der Familie so vertraut, schien zu fehlen. Simon ließ sich nicht täuschen. Er wusste, dass sie Martha genauso sehr liebte wie ihre anderen Kinder, allerdings mit einer vollkommen anderen Liebe.
    Seine Zeichnung lag auf der Bettdecke. Meriel griff danach.
    »Merkwürdig«, sagte sie. »Schönheit, aber kein Charakter.« Dann wandte sie sich ihm zu. »Und du?« Sie sah ihn mit irritierender Direktheit an. Ihre Augen glichen denen von Cat und Ivo, sehr rund, sehr dunkel, nicht wie seine eigenen blauen.
    Sie wartete, ruhig und gefasst. Simon nahm ihr die Zeichnung ab und bedeckte sie mit einer Schutzfolie.
    »Ich wünschte, dein Vater hätte dich nicht angerufen. Du hast den Urlaub nötig.«
    »Urlaub kann ich auch später noch nehmen. Ich wollte eine Tasse Tee trinken gehen. Soll ich dir welchen mitbringen?«
    Aber seine Mutter schüttelte den Kopf. Von der Tür schaute Simon zurück und sah, dass sie ihrer Tochter sanft das Haar aus dem Gesicht strich.

[home]
    6
    K omm zu uns raus … Iss mit mir zu Mittag.«
    »Vielleicht morgen.«
    »Warum erst dann?«
    »Ich fahre zum Hylam Peak … Ist ein guter Tag zum Wandern. Ich besorg mir da was zu essen.«
    »Grübelst du?«
    »Nicht so richtig.«
    »Ich ruf dich später an.«
    Simon legte auf. Seine Schwester kannte ihn zu gut. Grübeln? Ja. Wenn er sich so fühlte, war er keine gute Gesellschaft, musste Abstand zwischen sich und zu hause bringen und, wie Cat es mal ausgedrückt hatte, das Grübeln aus sich herausmarschieren. Es war alles, der abrupte Aufbruch aus Venedig, Martha und immer noch die Nachwirkungen des vergangenen Jahres. Am kommenden Mittwoch musste er wieder arbeiten. Wenn, dann musste er jetzt grübeln.
     
    Hylam Peak lag inmitten einer Hügelkette, die sich westlich von Lafferton über dreißig Meilen erstreckte, zu erreichen über eine gewundene Straße durch offenes Moorland. Ein paar feuchte Dörfer schmiegten sich in den Schatten der tiefen Einschnitte zwischen den Gipfeln. Im Sommer waren die Wege voll langsam vorankommender Wandergruppen, Bergsteiger hingen mit ihren Seilen wie Spinnen an den felsigen Vorsprüngen. Die Berge waren die Spielwiese von Bevham.
    Die Leute kamen aus der Stadt, um ihre Drachen und Modellflugzeuge fliegen zu lassen, zum Gleitschirmfliegen und Mountainbikefahren.
    Während des restlichen Jahres, besonders bei schlechtem Wetter, kam niemand. An solchen Tagen gefiel es Simon am besten, wenn er oben auf dem Hylam Peak saß, umgeben vom Blöken der Schafe und den Schreien der Bussarde mit Blick über drei Grafschaften, und zeichnen, nachdenken, ja sogar auf den trockenen Grasbüscheln schlafen konnte und mit niemandem sprechen musste.
    Er fragte sich, wie Menschen tagein, tagaus in Familien und an überfüllten Arbeitsplätzen, in Bussen, Zügen, geschäftigen Straßen überleben konnten, ohne solche einsamen Rückzugsorte in wildem, leerem Land.
    Er war der Einzige auf dem umzäunten Gelände, das als Parkplatz diente. Bevor er nach seiner Segeltuchtasche griff, aktivierte er das Lenkradschloss und
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