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Des Abends eisige Stille

Des Abends eisige Stille

Titel: Des Abends eisige Stille
Autoren: Susan Hill
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Tür, und Spike Jones trat ein, bevor Andy »Herein« sagen konnte. Spike war in Ordnung.
    »Die Jungs wollen Fußball spielen.«
    »Nee.«
    »Warum nicht?«
    »Hab meine Stollenschuhe schon abgegeben.«
    »Ach so. Nimmst du Kylie Minogue mit?«
    »Kannst du haben.«
    Spike lachte, nahm das aufgerollte Poster, das am Schrank lehnte. Er hatte noch zehn Monate in Birley abzusitzen und schon seit langem ein Auge auf das Poster geworfen.
    »Du hängst doch hier nicht rum und grübelst, oder?«
    »Verpiss dich.«
    Grübeln. Andy drehte sich wieder zum offenen Fenster um. Grübeln. Nein. Das war am Anfang gewesen, in den ersten Tagen und Wochen in Stackton, wo er Tag und Nacht nicht hatte unterscheiden können und gedacht hatte, er würde verrückt. Grübeln. Das hatte er nicht mehr getan, seit er hierhergekommen war und im Gemüsegarten zu arbeiten begonnen hatte. Und er dachte nicht dran, es wieder aufzunehmen.
    Der Abend verging, wie alle zuvor, und darüber war er froh. Er hätte es nicht anders gewollt. Er aß in der Kantine, stand mit ein paar anderen draußen und sah beim von Flutlicht erleuchteten Fußballspiel zu, rauchte eine Selbstgedrehte, ging wieder hinein und spielte eine Stunde Billard. Um zehn war er in seinem Zimmer, schaute sich im Fernsehen
The West Wing
an.
     
    Verwirrt und schwitzend wachte er aus einem Alptraum auf. Scheinwerfer entlang der äußeren Umzäunung sorgten dafür, dass es nie ganz dunkel wurde. Es war kurz nach drei.
    Der Schock dessen, was passieren würde, traf ihn erneut und jagte ihm solche Angst ein, dass sich sein Magen verkrampfte und seine Kehle eng wurde. Viereinhalb Jahre Gefängnisleben: sich anpassen lernen, eine Fassade errichten, sein eigenes Selbst so weit verbergen, dass er kaum mehr wusste, was dieses Selbst war, Routine, Regeln, Lernen und jedes nur mögliche Gefühl empfinden, viereinhalb Jahre Schwanken zwischen Wut und Verzweiflung, Akzeptanz und Hoffnung und wieder zurück. In fünf Stunden würden die viereinhalb Jahre zu Ende sein. In fünf Stunden würde er draußen sein. In fünf Stunden würde ihm dieses Zimmer, dieser Ort nichts mehr bedeuten und, mehr noch, er würde denen hier nichts mehr bedeuten. Geschichte. Sein Name aus dem Register gestrichen, sein Gesicht vergessen.
    Fünf Stunden.
    Andy Gunton legte sich auf den Rücken. Wenn es schon nach einer viereinhalbjährigen Strafe so war, wie musste es für diejenigen sein, die nach fünfzehn Jahren und mehr rauskamen? Empfanden sie auch diese plötzliche Panik bei dem Gedanken, ohne Wände zu sein, ohne Stützen, ohne die abstumpfende Routine, die nach kurzer Zeit das Einzige war, an das man sich zur Sicherheit klammerte?
    Er dachte an die erste Woche in Stackton. Da war er zwanzig gewesen. Und hatte keine Ahnung gehabt. Der Gestank und der Krach, die toten Gesichter und misstrauischen Augen, das Bedürfnis, nicht unbedingt auszubrechen oder wegzulaufen, sondern einfach zu verschwinden, sich aufzulösen, das dröhnende Schnarchen von Joey Butler, seinem ersten Zellengenossen, an das er sich nie gewöhnt hatte, nie tief genug schlafen zu können, die roten, juckenden Stellen auf seiner Haut, die nach zwei Nächten auf der Gefängnismatratze zu Ekzemen geworden und erst hier richtig verheilt waren – all das fiel ihm wieder ein, er erlebte alles erneut, lag wach und schaute auf den trüben Schein der Lampen an der Wand. Sie behaupteten, es würde einem entweder das eine oder das andere antun. Es raubte einem die Seele, so dass man sich nie wieder selbst gehörte, sondern für immer dem Gefängnis und alles tat, um wieder hineinzukommen, oder es jagte einem schreckliche Angst ein, man wurde verändert, durchgekaut und ausgespuckt. Geheilt.
    Er war in dem Moment geheilt worden, als er seine eigene Kleidung abgab und die Gefängnisuniform anzog. Da hätten sie ihn gehen lassen können. Es hatte funktioniert. Er würde nicht zurückkehren.
    Wie hätte er ahnen können, dass er sich so fühlen würde, viereinhalb Jahre später, voller Angst rauszukommen, sich an das Vertraute klammerte, sich halbwegs danach sehnte, einen Fehler begangen zu haben, eine weitere Strafe absitzen zu müssen, damit dieser Raum in der kommenden Nacht noch seiner war?
    Er starrte weiter auf das Licht an der Wand, bis es sich zu verändern begann und in der Morgendämmerung zu einem weichen Grau wurde.

[home]
    5
    S imon Serrailler hatte tief geschlafen und wachte um acht Uhr vom Schlagen der Kathedralenuhr auf.
    Die Wohnung, die er mit
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