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Des Abends eisige Stille

Des Abends eisige Stille

Titel: Des Abends eisige Stille
Autoren: Susan Hill
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Lichter hinter Stationstüren, das Quietschen eines Medikamentenwagens, eine leise Stimme, klirrende Ringe auf einer Vorhangstange … Simon ging langsam Richtung Intensivstation, und die Atmosphäre, das Gefühl von Leben und Tod so eng beieinander, legte sich auf ihn, erhöhte seinen Pulsschlag.
    »Chief Inspector?«
    Er lächelte. Einer der wenigen Menschen, die ihn hier beruflich kannten, war zufällig die diensthabende Schwester.
    Die Station machte sich für die Nacht bereit. Vorhänge wurden um ein oder um zwei Betten gezogen, in einer Seitenstation ging Licht an. Im Hintergrund das schwache Piepsen und Summen der Monitore. Der Tod schien nahe zu sein, als lauerte er im Schatten oder hinter einem Vorhang, die Hand an der Tür.
    »Sie liegt in einem Nebenzimmer.« Schwester Blake führte ihn durch die Station.
    Ein Arzt mit aufgekrempelten Ärmeln, das Stethoskop um den Hals, kam aus einem der Zimmer und ging, nach einem Blick auf seinen Piepser, eilends davon.
    »Die werden auch immer jünger.«
    Schwester Blake sah über ihre Schulter. »Bald haben wir Sechzehnjährige.« Sie blieb stehen. »Ihre Schwester ist hier drin … Alles ist ruhig. Dr. Serrailler war fast den ganzen Tag bei ihr.«
    »Wie sind die Aussichten?«
    »Menschen in der Verfassung Ihrer Schwester sind anfällig für Thoraxinfektionen … Na ja, das wissen Sie bereits, sie hatte sie oft genug. Die gesamte Physiotherapie der Welt kann lebenswichtige Bewegung nicht ersetzen.«
    Martha hatte nie laufen gelernt. Sie hatte das Gehirn eines Babys und verfügte über so gut wie keine motorischen Funktionen. Sie hatte nie gesprochen, nur stammelnde und gurrende Laute von sich gegeben, hatte nie Kontrolle über ihren Körper erlangt. Sie hatte im Bett gelegen, auf Stühlen und Rollstühlen gesessen, der Kopf ihr Leben lang von einem Gestell gehalten. Als sie noch klein war, hatte die Familie sie abwechselnd herumgetragen, aber sie war immer bleischwer gewesen, und keiner hatte sie mehr hochheben können, nachdem sie drei Jahre alt war.
    »Hier ist das Stationstelefon, leider nicht besetzt … zu wenig Personal, wie gewöhnlich. Ich komme, wenn Sie mich brauchen.«
    »Danke, Schwester.«
    Simon öffnete die Tür von Zimmer C.
    Als Erstes traf ihn der Geruch – der Geruch von Krankheit, den er immer verabscheut hatte; doch der Anblick seiner Schwester in dem hohen, schmalen und unbequem wirkenden Bett schnitt ihm ins Herz. Die Monitore, an die sie mit verschiedenen Kabeln angeschlossen war, blinkten, im durchsichtigen Infusionsbeutel am Ständer stiegen hin und wieder Blasen auf, während der Inhalt Tropfen für Tropfen in ihre Armvene lief.
    Aber als er näher ans Bett trat und auf Martha hinunterblickte, wurden die Apparate unsichtbar, bedeutungslos. Simon sah die Schwester, die er immer gesehen hatte. Martha. Hirngeschädigt, reglos, bleich, schwer, ein wenig Speichel im leicht geöffneten Mundwinkel. Martha. Wer wusste, was sie je von ihrem Leben, der Welt, ihrer Umgebung, den Menschen, die sie pflegten, der Familie, die sie liebte, wahrgenommen hatte? Niemand hatte je richtig mit ihr kommunizieren können. Ihr Bewusstsein und Verständnis waren geringer als das eines Haustiers.
    Und doch … war da ein Lebensfunke in ihr gewesen, auf den Simon von Anfang an reagiert hatte und der ihn tiefer und stärker berührte als Mitgefühl oder auch nur ein Gefühl einfacher Verwandtschaft mit jemandem von seinem eigenen Fleisch und Blut. Bevor sie nach Ivy Lodge gekommen war, hatte er sie oft in den Garten getragen oder sie im Auto festgeschnallt und sie meilenweit herumgefahren, in der Gewissheit, dass sie es genoss, aus dem Fenster zu schauen, hatte sie im Rollstuhl durch die Straßen geschoben, um ihr Abwechslung zu bieten. Und er hatte immer mit ihr gesprochen. Sicherlich hatte sie seine Stimme gekannt, wenn sie auch nicht ahnen konnte, was die Laute bedeuteten, die diese Stimme hervorbrachte. Später, wenn er sie im Pflegeheim besuchte, war ihm die gespannte Stille aufgefallen, die über sie kam, sobald sie ihn sprechen hörte.
    Er liebte sie, mit einer seltsamen reinen Liebe, die keine Anerkennung oder Reaktion erhalten kann und sie auch nicht fordert.
    Ihr Haar war gebürstet worden und lag auf dem hohen Kissen locker um ihren Kopf. Ihr Gesicht zeigte weder Charakter noch Ausprägung; die Zeit schien ohne Auswirkung darüber hinweggeglitten zu sein. Aber Marthas Haar, das man aus Rücksicht auf das Pflegepersonal immer kurz geschnitten hatte,
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