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Des Abends eisige Stille

Des Abends eisige Stille

Titel: Des Abends eisige Stille
Autoren: Susan Hill
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Krankenhaus. Sie geht nach Hause. Manchmal kommt sie zu uns, aber sie spricht nicht darüber.«
    »Was ist denn genau passiert?«
    »Das Übliche – Erkältung, dann Bronchitis, dann Lungenentzündung … Wie oft haben wir das jetzt schon durchgemacht? Ich glaube allerdings nicht, dass ihr Körper noch dagegen ankämpfen kann. Sie hat kaum auf die Behandlung reagiert, und Chris sagt, sie überlegen jetzt, wie aggressiv sie vorgehen sollen.«
    »Arme kleine Martha.«
    Die Stimme ihres Bruders, besorgt und zärtlich, hallte in Cats Ohr wider, als sie auflegte. Tränen traten ihr in die Augen, wie so häufig während der Schwangerschaft … Selbst der Anblick eines der Plüschtiere ihrer Tochter, das aufgeweicht im regennassen Gras lag, hatte Cat an diesem Nachmittag zum Weinen gebracht. Unbeholfen stemmte sie sich vom Sofa hoch. Sie hatte es vergessen. Hatte fast alles darüber vergessen, wie es einem in der Schwangerschaft ging. Sam war jetzt achteinhalb und Hannah sieben. Das dritte Kind war nicht geplant gewesen. Chris und sie führten zu zweit eine Hausarztpraxis und waren bis an die Grenzen ihrer Zeit und Energie ausgelastet. Aber obwohl sie so rasch wie möglich wieder Sprechstunden abhalten wollte, wusste Cat, dass sie, realistisch betrachtet, für die nächsten sechs Monate größtenteils ausfallen und das Jahr danach nur halbtags würde arbeiten können. Außerdem gewann sie, je näher die Entbindung rückte, zunehmend Gefallen an der Vorstellung, Zeit mit dem Baby zu Hause verbringen, den anderen beiden mehr Zeit widmen zu können und nicht schon so schnell zu der anstrengenden Schinderei in einer Arztpraxis zurückkehren zu müssen. Ein viertes Kind würde es nicht geben. Dieses hier war kostbar. Sie würde die Zeit genießen.
    Sie lag auf dem Sofa und versuchte zu schlafen, konnte aber ihre Gedanken nicht abstellen. Wie seltsam und doch typisch von ihrem Vater, in Venedig anzurufen, mit solchen Worten.
»Wenn du deine Schwester noch lebend sehen willst, solltest du besser nach Hause kommen.«
    Und wie oft besuchte er Martha? Cat hatte ihn nur selten den Namen ihrer Schwester aussprechen hören, und er hatte sie einst wütend gemacht, als er Martha in Gegenwart von Sam und Hannah »den Krüppel« genannt hatte. Schämte er sich dafür, ein gehirngeschädigtes Kind zu haben? Oder war er wütend? Warf er es sich selbst oder Meriel vor?
    Und aus welchem Grund hatte er Simon angerufen, das andere Kind, für das er nichts übrighatte?
    Simon, Cats Drillingsbruder, der Mensch, den sie, neben ihrem Mann und ihren Kindern, am meisten liebte.
    Der Kater Mephisto tauchte aus dem Nichts auf, sprang auf das Sofa neben sie und rollte sich zusammen.
    Und dann schliefen sie alle drei ein.

[home]
    3
    D ie Straßen waren dunkel und fast leer, obwohl es noch vor zehn war. Nur das Kreiskrankenhaus Bevham war hell erleuchtet, und als Simon Serrailler in die Einfahrt bog, wurde er von einem Krankenwagen mit heulenden Sirenen überholt, der auf die Notaufnahme zuraste.
    Simon hatte immer gerne nachts gearbeitet, schon vom ersten Tag als uniformierter Constable an, und er mochte es auch jetzt noch, wenn er gelegentlich nächtliche Einsätze leitete. Ihn befeuerte das Gefühl der Dringlichkeit, die Art, wie sich alles verschärfte, jede Bewegung und jedes Wort bedeutsam zu sein schienen, aber auch die merkwürdige Nähe, erzeugt durch das Wissen, dass sie eine wichtige und manchmal gefährliche Arbeit leisteten, während der Rest der Welt schlief.
    Auf dem halbleeren Parkplatz stieg er aus und schaute zu dem großen Klotz des Krankenhauses, neun Stockwerke hoch und mit mehreren niedrigeren Gebäuden im rechten Winkel dazu.
    Venedig war Lichtjahre entfernt, doch für einen kurzen Augenblick schoss ihm ein Bild des Friedhofs auf San Michele im kühlen Licht des Sonntagmorgens durch den Kopf, die Bänder der Kieswege und die bleichen, stillen, trauernden Statuen. Wie hier im Krankenhaus hatten sich so viele Gefühle angestaut, steckten in jeder Ritze, dass man sie einatmete und spürte und roch.
    Er ging durch die Glastüren. Tagsüber glich die Eingangshalle des Krankenhauses der eines Flugplatzes, mit all den kleinen Läden und dem ständigen Menschengewimmel. Das Kreiskrankenhaus Bevham war ein Lehrkrankenhaus für mehrere Fachrichtungen mit einer riesigen Belegschaft und vielen Patienten. Jetzt, da die Ambulanzräume und Büros im Dunkeln lagen, machte sich wieder die echte Krankenhausatmosphäre auf den ruhigen Fluren breit.
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