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Der Schock: Psychothriller (German Edition)

Der Schock: Psychothriller (German Edition)

Titel: Der Schock: Psychothriller (German Edition)
Autoren: Marc Raabe
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Prolog
    Berlin, 26. Dezember 1969
    Froggy war zehn Jahre alt, oder, um genau zu sein: 3709 Tage. Und Tag für Tag wünschte er sich verzweifelt, dass sich etwas änderte.
    Froggy war nicht blöd. Er wusste, dass es eiserne Regeln gab. Eine dieser Regeln war, dass Wünsche nicht in Erfüllung gingen. Dennoch hoffte er.
    Es war der zweite Weihnachtsfeiertag, am späten Abend. Es hatte geschneit, und die ganze Welt erstickte unter einer weißen Haut. Eiskristalle glühten unter den Straßenlaternen wie Phosphor. Das Einfamilienhaus mit seinem Walmdach lag wie ein Fremdkörper zwischen den klotzigen Mehrfamilienhäusern.
    Froggy war ein paar Schritte die dunkle Flurtreppe hinabgeschlichen, nun lag er bäuchlings auf den unbequemen Stufen und starrte zwischen ihnen hindurch ins Wohnzimmer. Durch die Sprossenfenster der Wohnzimmertür hatte er den Fernseher gut im Blick.
    Seine Eltern saßen weiter rechts auf dem Sofa, verborgen in der Nische, aus der sie sich den Rest des Abends nicht mehr hervorschälen würden. Ab und an quollen bläuliche Schlieren von Zigarettenrauch von dort hervor.
    Nach dem Spielfilm kamen die Spätnachrichten. Froggy hasste Nachrichten. Ständig dieser stocksteife Typ, der sprach wie eine Maschine, zwischendurch nichts als langweilige Bilder, und wenn man Glück hatte mal ein paar Tote.
    Heute gab es gar keine Toten.
    Müdigkeit kroch ihm in die Augen. Er wünschte sich einen Knopf, der ihn zum Spätfilm katapultierte.
    Als ihm die Augen zufielen, träumte er von Jenny.
    Sie war so alt wie er, und er träumte oft von ihr, fast immer den gleichen Traum. Er kam ihr näher, streckte die Hand nach ihr aus, konnte sie riechen, wollte ihre Schulter berühren, wollte, dass sie sich umdrehte und ihn ansah. Aber jemand stieß ihm schmerzhaft in die Rippen und lachte höhnisch.
    Mit einem Ruck öffnete er die Augen.
    Er lag immer noch auf der Treppe. Die Kante der Stufe drückte ihm in die Rippen. Der Schlafanzugärmel, auf dem sein Kopf lag, war feucht, und aus seinem Mundwinkel rann ein Speichelfaden.
    Hatte er etwa … geschlafen?
    Er schrak zusammen, sah zum Fernseher. Die Nachrichten waren vorbei. Der Spätfilm lief.
    O nein! Wie hatte er nur so unvorsichtig sein können! Sein Blick flog panisch hinüber zur Nische. Ein dünner Faden Rauch schwebte aus der Ecke. Er atmete auf. Sie saßen immer noch da, wie festgewachsen.
    Zeit zu verschwinden. Lautlos spannte er die dünnen Muskeln und richtete sich auf. Zufällig fiel sein Blick noch einmal auf den Fernseher, und er erstarrte mitten in der Bewegung. Da war ein Mann auf der Mattscheibe. Sein ganzer Kopf war mit einem breiten Wundverband umwickelt, nicht einen Zentimeter Haut konnte Froggy erkennen. Ganz langsam, mit ebenfalls verbundenen Händen, löste der Mann die Bandagen von seinem Kopf.
    Wie elektrisiert starrte Froggy auf die Szene.
    Denn hinter dem Verband war – nichts.
    Einfach nichts.
    Der Mann war unsichtbar!
    Froggy bekam eine Gänsehaut. Plötzlich war ihm alles egal. Der feuchte Ärmel seines Schlafanzugs, dass er eingeschlafen war, dass er entdeckt werden könnte. Er musste diesen Film sehen.
    Als der Abspann lief, fühlte er sich wie ein Astronaut, der vom Himmel fiel. Mit steifen Armen und Beinen schlich er nach oben, schlüpfte in die Enge seines Kinderzimmers. Der Widerschein der Straßenlaternen warf giftiges Licht durchs Fenster. Müde trat er an sein Bett und erschrak bis ins Mark.
    Da saß jemand.
    Eine massige Gestalt, die nach Rauch stank, und nach Alkohol. Die Gestalt erhob sich von der Matratze, ein schwarzes Gespenst vor der gelbgrau erleuchteten Tapete. In der Hand der Gestalt baumelte ein Ledergürtel.
    »Deine Ma hat dich auf der Treppe gesehen«, sagte sein Vater. Seine Stimme klang schwer und müde, aber dennoch klar, obwohl der Geruch aus seinem Mund etwas anderes erwarten ließ.
    Froggy begann zu zittern.
    »Weißt du, wie viel Kummer ihr das macht, dass du so bist?«
    Froggy schwieg. Es machte ihm ja selbst Kummer. Am liebsten wäre er gar nicht da gewesen.
    » Ich könnte dir ja verzeihen«, sagte sein Vater. »Ich weiß ja, woher’s kommt. Aber sie weiß es auch. Na ja, und sie hasst mich dafür. Mich! Weißt du, wie weh das tut?«
    Froggy biss sich auf die Lippen. Ja! Wusste er! Er hasste sich ja auch dafür. Und er versuchte schon sein ganzes Leben, ein anderer zu sein.
    Als er seine Strafe bekam, biss er sich auf die Zunge. Der metallene Geschmack half ihm, nicht zu schreien. Er wollte verschwinden, aus sich
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