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Tokio Vampire

Tokio Vampire

Titel: Tokio Vampire
Autoren: Florine Roth
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    Ich saß am Tisch und drehte und wendete den Gummiritter in meinen Händen. Gedankenverloren betrachtete ich das Plastikschwert und die filigran gearbeiteten Elemente der Rüstung. Und für eine Sekunde wünschte ich mir, mit diesem Gummihelden tauschen zu können. Nur für ein oder zwei Tage.
    „Ich kann auch bei Philipp übernachten“, bemerkte ich und versuchte es nebensächlich klingen zu lassen.
    Leo, meine Schwester, drehte sich ruckartig zu mir um. „So’n Quatsch! Kommt gar nicht infrage. Du bist mein Bruder, und du bist selbstverständlich eingeladen!“
    Ich seufzte und lächelte ein wenig verlegen. Leo, also eigentlich Leonara, wurde 18 Jahre alt. Und unsere Eltern hatten zugestimmt, ihr unser Haus für ein ganzes Wochenende zu überlassen. Vermutlich war das leichtsinnig, oder sogar völliger Irrsinn, denn die Freunde meiner Schwester waren überwiegend ... nun, ein wenig speziell.
    Wie meine Schwester, und das machte mich unruhig. Was auch der Grund war, warum ich ihr eben den Vorschlag unterbreitet hatte, für das betreffende Wochenende auszuziehen. Aber ganz offensichtlich passte das Leo nicht in den Kram. Ich hatte nur noch nicht herausgefunden, warum sie mich unbedingt dabei haben wollte! Ich war ihr kleiner Bruder, im Gegensatz zu ihr völlig unscheinbar. Und das war auch so gewollt. Ich hatte nämlich Dinge zu verbergen, und da konnte es nicht schaden, nahezu unsichtbar zu sein. Aber dazu später.
    Meine Schwester schob ihre schwarz gefärbten Haare aus dem Gesicht und musterte mich mit zusammengekniffenen Augen.
    „Komm schon, ich brauch deine Hilfe, Bruderherz.“
    „Was soll ich denn tun? Die Getränke reichen? Oder die Kotze wegwischen?“
    Leo grinste. „Beides natürlich.“
    „Ach, Scheiße“, murmelte ich aufsässig.
    „Meine Freunde mögen dich“, behauptete sie und widmete sich wieder dem Spaghetti-Topf, denn das Wasser kochte gerade über.
    „Deine Freunde haben mich noch nicht einmal zur Kenntnis genommen“, korrigierte ich und stellte den Gummiritter zur Seite. „Und das sollte auch so bleiben.“
    „Ich habe keine Ahnung, warum du dich versteckst, Liam. Du siehst passabel aus, bist nicht auf dem Kopf gefallen ...“ Sie warf einen kurzen Blick über ihre Schulter. „Okay, deine Klamotten sind jetzt nicht gerade der Hit ...“
    „Danke!“
    „... aber daran könnte man ja was ändern.“
    Ich fand meine Klamotten ganz in Ordnung. Aber Leo und ihre Freunde standen auf schwarz, Leder, löchrig und schrill. Sogar jetzt trug meine Schwester einen Minirock und eine schwarze Korsage, dabei hatte sie nicht mal vor, heute noch rauszugehen. Aber klar, man konnte ja nie wissen – vielleicht stand ja plötzlich Robert Pattinson vor der Tür!
    „Hannah und Lilyana finden dich übrigens süß.“
    „Klar, Hannah und Montana, Bibi und Tina und Harry Potter“, ätzte ich.
    Leo schwieg eine Weile, dann sagte sie: „Stehst du auf Daniel Radcliffe?“
    Ich zog es vor, darauf nicht zu antworten. Daniel Radcliffe trug wenigstens keine löchrigen Strumpfhosen.
    „Oder nur auf deine Gummiritter?“

    Ich hatte keine Chance. Das Wochenende kam, unsere Eltern verabschiedeten sich – sah ich da nicht einen sorgenvollen Ausdruck in ihren Gesichtern? Ich konnte es ihnen nicht verdenken. Und ich steckte jetzt mit drin. Aus der Nummer kam ich nicht mehr raus. Ich schleppte mit meiner Schwester Getränkekisten und wurde ständig herumkommandiert. Und dann fing sie an, an meinem Aussehen herumzumäkeln. Das tat sie ja sonst auch, doch dieses Mal hatte sie es vor. Dieses Mal war sie fest entschlossen, mich für ihren Abend umzustylen.
    „Liam, du bist immer noch Jungfrau! Rate doch mal, woran das liegen könnte?!“
    Ich wurde ja nicht häufig rot, aber bei diesem Thema spürte ich, wie mir die Hitze in die Wangen schoss. „Ich ... ich ... keine Ahnung!“
    Eine Stunde später saß ich in schwarzen Klamotten vor dem Spiegel, mit hochtoupierten Haaren und Lidstrich und dachte, wer-zur-Hölle starrt mich da an?!
    „Geil, oder?“
    Leo sah mich zufrieden an.
    Mir fehlten die Worte. Aber so würde ich zwischen ihren Freunden sicher nicht groß auffallen. Ich räusperte mich. „Ich wusste gar nicht, dass du Halloween feierst.“
    „Du bist ja echt lustig“, sagte meine Schwester. Denn faktisch war ihr Geburtstag am 31. Oktober. „Jetzt hopp, wir haben noch einiges zu tun.“

    In dieser Aufmachung war ich noch unsicherer als ohnehin schon. Ich kam mir vor wie verkleidet. Ich war einfach
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