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Wir Wunderkinder

Titel: Wir Wunderkinder
Autoren: Hartung Hugo
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so verwegene, überschlanke Doddy war, nicht über den fragwürdigen, dünnbärtigen Gentleman Don Alvarez, ja, nicht einmal über die jovialen Herren im Zylinder, welche Gebetbücher in denselben robusten Händen trugen, mit denen sie einst gezaubert, gestohlen und geschossen hatten. Allenfalls hätte ich mich noch darüber wundern können, daß Evelyna nicht mit auf der von Bürger- und Auswandererglück strahlenden Photographie zu sehen war.
    »Nun, du wirst dieses noch in den Fortsessungen ssu erfahren bekommen«, tröstete mich Kirsten, als ich auf das gräßliche Photo starrte.
    »Aber das ist doch alles gelogen! Außerdem kann die alte Meisegeier mit Müh' und Not ihren Namen schreiben, aber nie und nimmer ihre Autobiographie! Tatsachenbericht –!!«
    »Sie werden darin von Taten berischten und von Sachen. Das wird schon stimmen. Und weißt du, was eine Autobiographie ist? Eine Lebensbeschreibung, die ein anderer schreibt, damit der, welcher sie ssu schreiben behauptet, sisch ein Auto kaufen kann.«
    »Daher der Name ›Autor‹«, spottete ich müde und mußte wieder einmal dem lebenserfahrenen Realismus meiner Kirsten recht geben.
    Aber was halfen mir jetzt noch ihr skandinavischer Realismus und ihre Fähigkeit, mich zu organisieren, da wieder einmal alle unsere Pläne über den Haufen geworfen wurden! Nun saßen wir glücklich wieder in einer eigenen Wohnung, hatten den begehrten ›Ssu-ssug‹ in die Großstadt erhalten, und der hoch dotierte Tatsachenbericht sollte mir, zum erstenmal nach zwei Jahrzehnten, die volle Schaffensfreiheit zurückgeben. Er sollte uns vieren die erste Auslandsreise ermöglichen, die Kinder, Ulli und Edith, mit ihren Großeltern in Gilleleje und den hübschen Tanten in Kopenhagen zusammenbringen.
    »Aus!« sagte ich. »Alles aus! Meine Redaktion wird natürlich nicht mehr mögen, wenn jetzt das Konkurrenzblau mit seinen Schauermärchen herauskommt. Außerdem könnte ich auch das Zeug gar nicht mehr schreiben. Ich kann keine ›facts dramatisieren‹, nachdem mir dieses Vorbild unter die Augen gekommen ist!«
    Kirsten strich mir über den Kopf. Ich nahm ihre Hand und küßte sie.
    »Du tust mir leid, altes Mädchen«, sagte ich. »Mit deinem erfundenen Ingvald wärst du auf jeden Fall besser dran gewesen als mit mir ewigem Bankrotteur.«
    »Du bist nischt bankrott, junger Alter« – so revanchierte sie sich großzügig für das ›alte Mädchen‹ –, »du wirst jetzt etwas viel Schöneres machen, als die Geschischte von deinem dummen Klassenkameraden Tisches. Du schreibst einfach den Roman unseres Lebens.«
    Ich starrte Kirsten verständnislos an.
    »Den Roman unseres Lebens? Das ist doch viel zu früh. Außerdem interessiert es keinen Menschen.«
    »Heiter natürlisch!«
    »Heiter! Natürlich!« sagte ich mit ironischer Betonung. »Weil das alles so furchtbar komisch gewesen ist, was wir in diesem Vierteljahrhundert erlebt haben. Fritz Gebbinger ist aus Rußland nicht mehr zurückgekommen, meine Melusine hat vielleicht in workuta oder irgendwo an der Eismeerküste ihr Ende gefunden, unser Haus ist verbrannt, und Herrn Roselieb hat eine Mauer erschlagen, als er seine Kürassiertrompete retten wollte. Eine heitere Bilanz!«
    »Aber ›heiter‹ ist doch nischt so wie im Kinolustspiel: alles rosenrot und alle Menschen lieb und gut. Isch denke, heiter ist, wenn man trotzdem immer noch hat lachen können. Wenn wir mit aufgeplassten Fingern bei Bohnerwachslischt Feste gefeiert haben. Und wie Herr Köggel mir, statt Blumen, eine Porssion Roßäpfel geschenkt und danach das halbe Paket weggefressen hat. Und«, fügte sie halblaut hinzu, »daß wir alle noch leben: du, isch, die Kinder, die Löws drüben in Amerika – .«
    Sollte Kirsten recht haben? War nicht aus der Sicht der Weltgeschichte, von Erziehung, Umerziehung und Um-und-um-Erziehung der Völker, von Tod, Grab und Ewigkeit schließlich alles nur noch ein närrisches, belachenswertes Spiel – und damit auch der Roman von unser aller Leben zum Schlüsse heiter?
    So weit war ich eben mit meinen Überlegungen gekommen, als Ulli zur Tür hereintrat und eine Portion Winterluft plus jugendlichem Optimismus in mein Arbeitszimmer brachte.
    »Tag, Paps«, sagte er und küßte mich auf die Wangen. Seine Stimme schwankte zwischen einem Sängerknabensopran und einem gemäßigten Säuferbaß, und sein Kinn kratzte schon ein wenig.
    »Rat' mal, was ich gesehen habe? Einen Soldaten, der deutsch gesprochen hat. Einen deutschen
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