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Wir Wunderkinder

Titel: Wir Wunderkinder
Autoren: Hartung Hugo
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gerichteten Scheinwerfer, dem aufgeregten Gedränge, das um ihn entstand, war sein apoplektischer Zustand nicht gewachsen. Im Augenblick seines zweitgrößten Triumphes raffte ihn ein Schlaganfall hinweg, so daß er den größten nicht mehr erleben durfte: das beflissene Gewimmel an seinem Grabe, an das nicht nur alle regierungstreuen Länder ihre Abordnungen mit überdimensionalen Kränzen und Blumenangebinden entsandten, sondern sogar die Hauptstadt am Rhein, die ihn einst durch ihren markantesten Vertreter vielleicht allzu gleichgültig behandelt hatte.
    Erwägt man freilich die Tatsache, daß sich bei seiner Beerdigung erstmalig und unvermutet auch seine drei Bräute trafen, so möchte man ihm dieses Erlebnis auch wieder nicht gewünscht haben. Zwar wurde die Abfertigung der zahllosen Kondolierenden dadurch erleichtert und beschleunigt, daß drei schwarz verschleierte Damen an getrennten Plätzen die Beileidskundgebungen entgegennahmen, aber nur ein beherzter, mit seiner Schaufel bewaffneter Totengräber konnte verhindern, daß, nach dem letzten tränenden Blick in die Tiefe, drei Witwen allzu munter aneinander gerieten.
    Doch wird gerade diese Begebenheit von Frau Müller-Gegginger, Frau Kückeley und Frau Ottmar so verschieden dargestellt, daß ich sie für meinen vorgesehenen Bericht außer acht lassen muß. Auch will ich alles vermeiden, was etwa zu nachträglichen Beleidigungsprozessen Anlaß geben könnte.
    Dagegen möchte ich dem Klassenkameraden Tiches – soviel Schlimmes er mir angetan haben mag – ein Schäufelchen Sand der Erinnerung in die dunkle Gruft nachsenden. Nicht umsonst haben wir als Knaben einmal zusammen Sand geschaufelt, der fröhlich in die hellen Lüfte stieg …

Das Ende im Wunderland
    Ich saß an meinem Schreibtisch, war eben mit der Ordnung der Tiches-Papiere einigermaßen fertig geworden und hatte auch schon die Tagebücher chronologisch geordnet, als Kirsten ins Zimmer trat und eine illustrierte Zeitschrift schwenkte.
    »Du kommst ssu spät«, rief sie aufgeregt.
    »Wieso? Womit?« fragte ich verwundert.
    »Die Memoiren der Familie Meisegeier erscheinen!«
    »Der Meisegeiers? Das ist doch nicht möglich!«
    »Da, lies: ›Des Satans Mütterreferentin. Eine Frau erssählt ihren Leidensweg am Rande der Macht‹.«
    »Was heißt ›Leidensweg‹?« rief ich. »Sie war dauernd besoffen. Was heißt ›Rand‹? Sie saß mittendrin. Und was heißt schließlich sogar ›Frau‹? Vor Gesetz und Standesamt war Frau Meisegeier immer nur ein Fräulein Meisegeier.«
    »Nun, isch werde dir den Anfang vorlesen.«
    Ich entriß Kirsten das Blatt, auf dessen Titelbild ein spärlich bekleidetes, dafür aber um so farbigeres Mädchen als mexikanische Fürstin Cuxamalcl und ehemalige Hollywoodstatistin Maria Silvicrini bezeichnet wurde. Was auf den Innenseiten gedruckt stand, mußte ich selbst lesen:
    »Im Schatten des dicken, ehrwürdigen Pfarrkirchturms lebten wir in einer freundlichen mitteldeutschen Kleinstadt. Die Fenster unseres Häuschens gingen auf den Schulhof des Realgymnasiums hinaus, das meine Kinder besuchten, die ich dort in den Schulpausen sich fröhlich mit ihren gleichaltrigen Kameraden tummeln sah. Schon ehe die Jahre des Unheils kamen, wurde mein lieber Gatte allzufrüh abberufen.«
    Es war mir unmöglich, weiterzulesen. Ich schlug mit der flachen Hand auf das Zeitungsblatt und schrie Kirsten an, als sei sie für seinen verlogenen Inhalt verantwortlich:
    »Abberufen! Natürlich gingen die Herren Gatten aus begreiflichen Gründen immer sehr früh aus der Meisegeierhöhle weg. Und die lieben Kinderchen! Durch die rückwärtigen Fenster sind sie in unsere Schule eingestiegen, für fünf Pfennig Honorar.«
    »Da sind die Kinderschen –!«
    Meine gute Frau schien mir nichts ersparen zu wollen. Mit spitzem Finger deutete sie auf ein Bild, darauf man eine ebenso dicke wie muntere Greisin neben einer fülligen jungen Dame erblickte, die sich anschickte, mit einem in Spitzen verpackten Kind auf den Armen, eine pseudogotische Zuckerbäckerkirche durch ihr tropisch üppiges Portal zu betreten. Als Unterschrift las ich: »Die Verfasserin unseres Tatsachenberichtes bei der Taufe ihres jüngsten Enkelkindes. Hinter Frau Meisegeier ihre Tochter Theodora Alvarez mit ihrem Gatten Don Luis und deren Brüdern.«
    Von meinem ersten Ausbruch war ich bereits so geschwächt, daß ich mich über nichts mehr wunderte: nicht darüber, daß die rundliche, nicht mehr ganz junge Mutter Theodora die einst
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