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Die UnderDocks

Die UnderDocks

Titel: Die UnderDocks
Autoren: Andreas Schlueter
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Leon und die Sharks
    Heute würden sie ihn nicht bekommen. Gewiss nicht. Leon hatte es sich fest vorgenommen.
    Außerdem regnete es Bindfäden und kaum jemand hielt sich länger als unbedingt nötig im Freien auf. Auch wenn die Kleidung jeden Wassertropfen augenblicklich verdunsten ließ, mieden die meisten Menschen schlechtes Wetter. An allen Versuchen, es zu kontrollieren oder künstlich zu verändern, bissen sich die Wissenschaftler noch immer die Zähne aus.
    Regen war Leons Wetter. Er liebte es, durch leere Straßen zu gehen, ohne sich alle paar Meter vergewissern zu müssen, ob nicht doch irgendwo eine Gefahr lauerte.
    Denn im Regen kamen sie nicht. Die Erfahrung hatte er längst gemacht.
    Er musste sich nicht beeilen, gönnte es sich hin und wieder sogar, grundlos stehen zu bleiben, den Kopf in den Nacken zu legen und mit geöffnetem Mund die Tropfen aufzufangen. Obwohl das natürlichungesund war. Niemand trank Regenwasser. Und seine Mutter hätte entsetzt reagiert, wenn sie es gesehen hätte.
    Aber seine Mutter schwebte zu Hause in der obersten Etage des Sumatrakontors in ihrem Arbeitszimmer auf einem Luftkissensitz und hielt eine holografische Konferenz ab. Eine Sitzung, bei der ihre Gesprächsteilnehmer aus fünf Staaten ebenso virtuell neben ihr im Raum hockten, wie sie selbst gleichzeitig in fünf verschiedenen Städten neben ihnen saß. Natürlich nur als dreidimensionale Animation.
    Leon genoss einen kurzen Moment mit geschlossenen Augen, wie das verbotene Regenwasser seine Kehle kühlte, und ging dann fest entschlossen weiter.
    Diesmal einen anderen Weg. Einen neuen, den er ausprobieren wollte, damit sie ihn künftig auch bei gutem Wetter nicht erwischten.
    Er war aufgeregt, wie immer, wenn er einen neuen Weg testete. Und heute ganz besonders, denn dieser Weg war vielversprechend – und verbotener als Regenwasser.
    Leon schmunzelte, als er zielstrebig in den Eingang eines Neubaus am Sandtorpark Ecke Überseeallee lief. Vor der Glastür schüttelte er sich ersteinmal das Wasser aus den Haaren.

    Die gesamte Hafencity, die im Jahr 2025 weitgehendfertiggestellt worden war, wirkte wie ein überdimensionierter Spielplatz vieler Architekten. Jeder hatte sich hier, unabhängig davon, ob das Gebäude in die Umgebung passte oder nicht, austoben dürfen und mitunter waren bizarre Bauformen entstanden.
    Die Folge war, dass niemand mehr so recht wusste, wie die Grundrisse der Gebäude eigentlich aussahen, ob mit oder ohne Keller, Tiefgarage oder Wellnessbereich. So gab es versteckte Schwimmbäder oder einfach nicht genutzte Gänge und Räume irgendwo im Verborgenen, weil dann doch irgendwann die Baupläne wieder geändert worden waren.
    Diesem Zustand verdankte es Leon, dass er immer wieder neue Wege entdecken konnte, die ihn – oft auf verschlungenen und geheimnisvollen Pfaden – zu seiner Schule führten, zu der er eigentlich höchstens fünf Minuten zu Fuß benötigte. Eigentlich. Wenn er glatt durchkam, was in der Regel nicht der Fall war.
    Schon manches Mal, wenn er geglaubt hatte, es geschafft zu haben, waren sie doch noch in letzter Sekunde wie aus dem Nichts aufgetaucht. Fast wie die holografischen Projektionen, mit denen seine Mutter arbeitete.
    Aber die Sharks waren keine Projektion. Sie warenbittere Realität. Am Ende jeder dieser Begegnungen war Leon sein Bargeld, seine Jacke oder seine Tasche los. Einmal hatten sie ihm sogar seine Schuhe weggenommen. Vor einem halben Jahr war das gewesen, als die ersten Gleitgel-Schuhe, mit denen man mehr über die Straße schwebte als ging, ganz neu auf den Markt gekommen waren.
    Seitdem bemühte sich Leon immer wieder um einen neuen Weg zur Schule, auf dem sie ihn nicht erwischen würden.
    Er schaute sich noch einmal nach beiden Seiten um, wartete bis einer der Anwohner das Haus verließ, huschte dann durch die noch halb geöffnete Glastür und lief die blank geputzte, glänzende weiße Treppe hinunter in die Dunkelheit der Kellerräume, die zum größten Teil leer standen. Unübersehbar war hier einmal ein Gemeinschafts-Schwimmbecken für die Bewohner geplant gewesen. Über die Gründe, weshalb es immer noch nicht gebaut worden war, ließ sich nur spekulieren. Sie interessierten Leon auch nicht. Was ihn interessierte, war die Tatsache, dass die vielen kleinen Umkleideräume und die vorgesehene Sauna noch nicht ausgebaut waren. Die Wände des Rohbaus wiesen große Löcher für die geplanten Wasser- und Elektroanschlüsse und die Lüftungsschächte auf.
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