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Wir Wunderkinder

Titel: Wir Wunderkinder
Autoren: Hartung Hugo
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»Hört! Hört!« am rechten Ort ließ die Linke erzittern, und ein gemurmeltes »Sehr richtig!« bei der Rede eines oppositionellen Abgeordneten beschwor eine Regierungskrise herauf.
    Am Ende achteten Reporter und Tribünenbesucher fast nur noch darauf, wie der dicke Mann in der Mitte des Saales reagierte, um seine Mienen zum politischen Stimmungsbarometer zu machen. Linke und rechte Abgeordnete bemühten sich auffällig und mit unterschiedlichem Gelingen darum, durch gewagte kleine Scherze, die seine Fettschichten noch immer am leichtesten durchdrangen, den Mann mit dem Zünglein heiter und gnädig zu stimmen.
    Vielleicht wäre es so weit gekommen, daß, aus äußerster Verzweiflung heraus, Regierung und Opposition sich vereinigt und gemeinsam die Regierung gebildet hätten, wenn nicht der sehr dicke Mann zwischen ihnen noch vorher von einem sehr mageren in ein Reich abberufen worden wäre, das zeitlos und deshalb über alle ersten, zweiten, dritten oder nachfolgenden Reiche erhaben ist.
    Noch vor seinem Tode aber – oder richtiger mit ihm – umgab ihn jene höchste Glorie, die ihm am Grabe zu einem Fahnenwald, den er immer gern gemocht hatte, und zu Gebeten, um die er sich nie sonderlich kümmerte, verholfen hat.
    Es ging um ein Gesetz der Bildung und Erziehung, das nicht nur die beiden extremen Parteien, sondern das ganze Land in Erregung brachte, da es voraussichtlich Rückwirkungen bis an den Rhein, möglicherweise sogar bis über die Alpen haben konnte. In kulturellen Dingen aber besaß Tiches von jeher eine dezidierte Meinung: er lehnte sie rundweg ab – und noch immer waren die, welche sie professionell ausübten, für ihn ›komische Figuren‹ oder ›ulkige Kruken‹. So ließ er auch diesmal durch seine Gesichtszüge und kurze Ausrufe erkennen, daß er gegen die Parteien Partei ergreifen würde, die diese mißliebige Sache mit Nachdruck und heiligem Eifer verfochten.
    Mehr denn je bemühten sich Interessenverbände, Vereine und karitative Organisationen, auch die Leiter von Hoch-, Mittel- und Volksschulen um die Gunst des Bruno Tiches. Sein Posteinlauf – einschließlich der Paketpost – schwoll von Tag zu Tag an, und man sah ihn von Einladung zu Einladung eilen. Heimliche Gegner von ihm – offen wagte sich keiner zu bekennen – witzelten, er sei damals von den vielen schwarzen und roten Einladungen ständig blau gewesen.
    So rückte der große Tag der Abstimmung heran. Im Landtagssaal summte es – Parlamentsberichterstatter pflegen dies so auszudrücken – ›wie in einem Bienenkorb‹. Inmitten des Bienenkorbs saß, schwer auf die Ellbogen aufgestützt, aber noch von keiner Ahnung eines nahen Endes überschattet – der Abgeordnete Tiches. Mit so gelassener Ruhe sah er der Entscheidung entgegen, die ja allein von ihm abhing, daß er das Plenum nervös machte und verwirrte und bei der Abstimmung ein ganz unglaubwürdiges Ergebnis entstand. Oppositionelle mußten mit der Regierung und kulturtreue Abgeordnete mit der Opposition gestimmt haben. Am Ende gab es ein solches Durcheinander, daß man sich zu dem in diesen Fällen üblichen Hammelsprung entschloß, d.h. die Befürworter des neuen Gesetzes sollten durch die rechte Saaltür, seine Gegner durch die linke in den Plenarsaal eintreten.
    Niemand hatte beachtet – Frau Ottmar berichtete das Folgende geradezu dramatisch –, wie sich Bruno Tiches schon vorher aus einer gewissen kleinen Leibesnot heraus durch die rechte Tür zu einem nur dort zu findenden, den männlichen Oppositionellen und regierungstreuen Abgeordneten gemeinsamen Ort begab. Er verweilte da gemächlich seine Zeit und wunderte sich, seinem Temperament gemäß, nicht, als viele Abgeordnete vor ihm durch die gleiche Tür in den Saal zurückströmten.
    Als er ihn betrat, hörte er die Stimme eines Schriftführers eine Zahl nennen, und sogleich brach ein ungeheurer Jubel los. Man schloß Tiches in die Arme, der herbeieilende Ministerpräsident klopfte ihm persönlich auf den Rücken, Photoblitze blitzten, Wochenschaukameras surrten. Die Partei des Bruno Tiches hatte die Regierung, das Gesetz und – wenn man seinen Verfechtern glauben darf – die abendländische Kultur gerettet.
    Es mag sein, daß diesmal Tiches – Parteiführer und Partei in einer Person – sich wirklich zu einer heroischen Geste aufgeschwungen und den schrecklichen Irrtum durch einige Sätze der Erklärung berichtigt haben würde, aber dazu blieb ihm keine Zeit mehr. Der Hitze der auf ihn
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