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Wir Wunderkinder

Titel: Wir Wunderkinder
Autoren: Hartung Hugo
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süß. Ich hatte eine platonische Liebe zu allem Berittenen, aber in unserem Städtchen gab es bloß zwei Gendarmen, und die ritten selten zusammen aus. Nur wenn ein Mord oder Diebstahl auf dem Dorf geschehen war oder bei einer vorsätzlichen Brandstiftung in einer Feldscheune.
    Auch wenn ich die Augen fest zumachte, konnte ich mich nicht in eine verschnürte rote Attila hineinträumen. Ich hatte im vergangenen Jahr beim Vogelschießen fünf Freikarten im Hippodrom abreiten sollen, die Vater für eine wohlfeile Heulieferung bekommen hatte. Nie zuvor war ich der Erde so fern gewesen, nie zuvor hatte ich so verzweifelt gegen ihre Anziehungskraft angekämpft. Der Rappe wuchs und wuchs, und ich wurde von unwahrscheinlichen Partien seines Leibes zu noch unwahrscheinlicheren geschleudert. Die Musik bläkte blecherne Zungen gegen mich und das feindliche Roß. Die vier anderen Freikarten schenkte ich Tiches.
    Da kamen Kürassiere – Wimpel schwarz-weiß –, nur elf davon ritten zu Hause auf der zugedeckten Badewanne in der Küche, seit der zwölfte in den Ablauf geraten war. Aber hier waren es Hunderte, mit viermal soviel trabenden Pferdebeinen. Silbern blinkten Brustpanzer, und Silbervögel gab es auf Helmen, mit gefesselten, angeschmiedeten Füßen –, sonst wären sie wohl auf der wiegenden Musik wie Lerchen zum Septemberhimmel aufgeschwirrt.
    »Der König von Sachsen!« sagte Vater.
    Der da oben ritt, sah aus wie der verkleidete rotbäckige Baumeister Kubitschke von Vaters Stammtisch. Dennoch nahm ich meine Mütze ab.
    Aber Onkel Bense knuffte mich und sagte: »Wir sind doch keine Sachsen!«
    Gleich darauf knuffte er mich wieder, sagte: »Unser Großherzog!« Und riß mir die Mütze vom Kopf.
    Ich sah von hinten einen in die Uniform gezwängten, etwas feisten Herren mit Schweißtröpfchen im Nackenhaar und bekam davon keine dynastischen Hochgefühle.
    Jetzt dröhnte die Erde, Staub schmeckte fade auf unseren Lippen, und blanke Blitzableiter stachen den Himmel an. Viele Zwetschen fielen von der Erschütterung auf unsere Köpfe.
    »Die Sechsundneunziger«, sagte Onkel Bense und blähte Brust und Bart.
    Er spuckte den Kautabak aus, um durch geschürzte Lippen einen Marsch mitzupfeifen, der wie ein Riemen den Leib zuschnürte. Es roch säuerlich.
    Und danach kam die Verwandlung, die sogar Onkel Bense stumm machte. Verhüllt die Blitzableiter. Alles Blinkende wurde staubgrau.
    »Die neuen Uniformen«, sagte Vater, »– feldgrau.«
    Aber die Felder rundum waren bunt gegen das Freudlose da: stoppelgolden oder in edlem Kartoffelkrautbraun.
    Weil jetzt auch keine Musik mehr kam, gingen wir von der Straße weg, querfeldein nach Hause. Wir gingen etwas bedrückt, und Onkel Bense sagte, die Sozialdemokraten seien an allem schuld …
    So sieht es in meinen Erinnerungen aus. Aber mein Klassenkamerad Tiches – wenn er nicht nachträglich die Jugendkapitel seines Tagebuches abgeändert hat – muß das gleiche völlig anders empfunden haben.
    »In diesen grauen Uniformen werden sie einmal unsere engen Grenzen sprengen«, schreibt er wörtlich.
    Es muß damals, nach unserem Weggang, noch sehr viel Graues gekommen sein, bis in den sinkenden Abend hinein, und je mehr das Graue mit dem Abend verschmolz, um so begeisterter wurde Tiches. Er sah sich selbst, abendgrau in grauer Erde, etwas Kaltes an der Wange …
    Ich weiß überhaupt nicht recht, wie ich mich mit diesen hymnischen, uniformfrommen Kapiteln verhalten soll. Von mir aus möchte ich sie nicht bringen, und in den Jahren nach 1945 hätte ich sie gar nicht bringen dürfen. Aber jetzt werde ich sie wohl bringen müssen. Die Illustrierte und die allgemeine Lage dürften es verlangen.

Der Fall Evelyna Meisegeier
    »Den Streich mit der kleinen Meisegeier konnte ich nur wagen, weil ich als Klassenerster sehr weit vom Katheder entfernt saß«, lese ich in den Papieren von Bruno Tiches.
    Das ist wieder eine von Brunos betrüblichen nachträglichen Einfügungen in die Tagebücher, wobei ich die Möglichkeit offenlasse, daß gewisse Teile von ihnen überhaupt erst später entstanden sind.
    Außerdem enthält der zitierte Satz eine offenbare Unwahrheit; denn Bruno, der nur im Turnen und Singen gute Noten hatte, war leistungsmäßig und daher auch nach der Sitzordnung der Letzte in der Klasse, eine Stellung, die er bis zu seinem vorzeitigen Abgang tapfer hielt. Daß er bei der tollen Geschichte mit Evelyna tatsächlich am oberen Ende der Klasse saß, liegt an den eigenartigen
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