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Wir Wunderkinder

Titel: Wir Wunderkinder
Autoren: Hartung Hugo
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pädagogischen Ansichten unseres Professors Zindler, der ein Original gewesen ist, wie es heute in keiner Lehranstalt mehr zu finden sein dürfte, und von dem zunächst einiges zu sagen sein wird.
    Zindler teilte nämlich seine Schüler ein in die Elite, von ihm ›Elüte‹ gesprochen, die er in seiner Nähe zu sehen wünschte, und die ›misera plebs‹, die er, als ›jene Borschen‹ bezeichnet und angeredet, sich möglichst weit vom Leibe hielt. Nie habe ich ihn Bruno Tiches anders aufrufen hören, als ›jener Borsche im Hintergronde‹. Nie wurde ihm allerdings auch aus dem ›Hintergronde‹ befriedigende Antwort, so daß sich sein Unterricht im wesentlichen auf ein Kolloquium mit der nahen Elite beschränkte, die im Primus ihre verantwortungsreiche Spitze fand. Der Primus war bei Zindler, der den düster grausigen Spitznamen ›Gorgo‹ führte, eine Art Halbgott, dem sich alles bescheidenere Menschenwesen in der Klasse, wie auch ihr Untermenschentum, anzupassen hatte. So mußte sich schon beim ersten fernen Grummeln eines herannahenden Gewitters der Primus erheben, um eine vorgeschriebene Warnmeldung zu erteilen:
    »Herr Professor, es ist ein Gewitter im Anzug!«
    Daraufhin zitterten die immer etwas vor sich hinmümmelnden Lippen des alten Lehrers stärker, und er gab das Kommando:
    »Stahlfedern weg!«
    Vielleicht hatte ihm irgendwann ein jüngerer naturwissenschaftlicher Kollege eingeredet, es sei einmal in eine Schulklasse der Blitz eingeschlagen, von der blanken Stahlfeder eines Schülers angezogen – jedenfalls ließ Gorgo vor jedem Gewitter die Federhalter kassieren und durch den Klassenzweiten in das naturwissenschaftliche Kellergewölbe bringen.
    Einmal tat mir Professor Zindler wirklich leid. Da tobte ein besonders schweres Wetter mit flammenden Blitzen und schmetternden Einschlägen, und der zitternde alte Mann, der sein inneres Gewitterkerzlein angezündet hatte, sah zu seinem Entsetzen auf der Bank des ›Borschen‹ Tiches eine Kollektion nagelneuer Stahlfedern, die gefährlich funkelnden Spitzen samt und sonders den Fenstern zugekehrt … Daß diese Fenster im Erdgeschoß waren, ermöglichte übrigens alle Späße mit den Meisegeiers und vor allem die Sache mit Evelyna.
    Die Meisegeiers gehörten zu einer Menschengattung, die in den Polizeiregistern unter dem Kennwort ›Asoziale‹ geführt wird, die aber unserm behäbig humorvollen Religionslehrer einmal den Vergleich der Lilien auf dem Felde mit der Meisegeierbrut erlaubte. Tatsächlich wußte niemand, wer diese Brut ernährte, die sich in jedem Jahr um ein weiteres Haupt vermehrte, welches auch kommenden Schülerjahrgängen noch Belustigungen auf Gorgos Kosten versprach. Denn die jungen Meisegeier waren, sobald sie dem Nest entschlüpften, bedauerlicher- oder erfreulicherweise käuflich. Auch wir kauften uns ab und zu – ich muß es zu meiner heutigen Beschämung gestehen – einen kleinen ›Meisegeier vom Dienst‹ auf Klassenkosten, um, wie wir das nannten, ›den Unterricht bei Gorgo zu beleben‹.
    Das Ganze rollte nach einem ziemlich sturen Ritus ab. Ein Meisegeierknabe klopfte während der Lateinstunde von elf bis zwölf Uhr heftig ans Fenster. Der Primus fuhr hoch:
    »Herr Professor, eine Störung!«
    Gorgo lohte Blitze aus den Augen und rief:
    »Wer erdreistet sich?«
    Tiches oder ein anderer ›Borsche‹ antwortete:
    »Meisegeier, Herr Professor!«
    Und schon wurde vom Katheder die Anordnung zu einer Verfolgungsjagd gegeben, bei der ›zwei bis drei gewandte Torner‹ – Tiches war jedesmal dabei – die Verfolgung des Attentäters durch das Fenster aufzunehmen hatten und Gorgo selbst mit erhobenem Stock durch die Tür hinaus und über den Schulhof stürmte. Obwohl nie ein Meisegeier leibhaftig zur Strecke gebracht wurde, ging diese atemraubende, unterrichtsverkürzende Verfolgungsjagd traditionsgemäß alle drei bis vier Wochen einmal vor sich.
    Daß Tiches für die ›Aktion Meisegeier‹ zusätzlich Evelyna gewann, machte die Angelegenheit zu einer neuen, erregenden Sensation. Bruno hatte mit dem Sohn des reichen Textilfabrikanten Kienzel um einen Taler gewettet, daß er es fertigbrächte, ein Mädel in unsere Klasse einzuschmuggeln. Man stelle sich vor: 1913 – und ein Mädel unter sechsunddreißig Jungens … Mit Evelyna gelang es, und ich glaube Tiches sogar ausnahmesweise, wenn er notiert, er habe ihr doppelt soviel zahlen müssen, als er nachher von Heinz Kienzel für die Wette bekam.
    Evelyna war zwei, drei
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